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Norbert Müller: Kitaausbau forcieren, Qualität verbessern

Rede von Norbert Müller,

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den Tribünen, die Sie diese Debatte verfolgen! Frau Ministerin Schwesig, ich habe eigentlich direkt darauf gewartet, dass Sie Ihre Rede beginnen mit: Das ist ein guter Tag für die Familien in Deutschland. – Diesen Satz kann ich, ehrlich gesagt, nicht mehr hören.

Ich verfolge die Debatte heute mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Ja, wir werden dem vierten Ausbauprogramm zustimmen. Ja, die 100 000 Plätze sind dringend nötig. Ja, es ist gut, dass diese 100 000 Plätze in den nächsten Jahren geschaffen werden.

(Sönke Rix [SPD]: Und was ist daran schlecht?)

Das ist das lachende Auge. Das weinende Auge: Der Ausbau – das wissen Sie auch – hinkt den Bedarfen seit Jahren hinterher.

(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Ach, Herr Müller!)

Ich übersetze Ihnen das einmal praktisch.

In der Anhörung im Familienausschuss, die wir zu den Gesetzesvorhaben durchgeführt haben, hat der Direktor des Deutschen Jugendinstituts, Thomas Rauschenbach, auf meine Frage zum Bedarf geantwortet – ich zitiere –:

"Wenn ich das alles zusammenrechne ..., dann werden wir nicht 100 000 Plätze, dann werden wir nicht 200 000 Plätze, dann werden wir auch nicht 300 000 Plätze, sondern wir werden 350 000 Plätze in den nächsten Jahren benötigen. Das zeigt, dass das, was möglicherweise beschlossen wird, nämlich 100 000 Plätze mehr, einfach nicht reichen wird."

Im Folgenden führt er aus, dass die Dynamik noch zunimmt. Er glaubt, dass der Bedarf von 350 000 Plätzen – Status quo – nur eine Zwischenetappe ist, dass es einen enorm steigenden Bedarf an Plätzen gibt.

Ich mache das einmal praktisch. An einem Ort, wo das erste Mal eine gut funktionierende Kita errichtet wird, steigt der Bedarf einfach. Dann muss man hinterherkommen und kann nicht sagen: In Zukunft hat jedes Kind wirklich einen Anspruch, der auch mit einem Platz unterlegt ist. – Das ist heute nicht so. Selbst wenn 2020 die 100 000 Plätze sozusagen am Netz sind, haben wir immer noch eine Viertelmillion unversorgter Kinder. Das ist ein erhebliches Problem. Das kann man nicht einfach wegdiskutieren. Man kann sich nicht über kleine Schritte freuen, die man gegangen ist, wenn das Problem einer Viertelmillion fehlender Plätze weiter existiert.

Beim Kitaausbau ist es ein bisschen wie im Märchen vom Hasen und dem Igel. Immer dann, wenn die Bundesregierung mit etwas kommt und das Parlament mit Mehrheit sagt: „Wir haben etwas geschafft und sind einen Schritt vorangekommen“, ist der Igel bereits da und sagt: Hier fehlt noch ganz viel. – Das ist die Realität in Deutschland.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben zum heutigen Gesetzesvorhaben einen eigenen Entschließungsantrag vorgelegt. Wir möchten als Linke in dieser Debatte drei zentrale Forderungen erheben, von denen wir glauben, dass deren Erfüllung notwendig ist. Weil Sie aufgefordert haben, das mit Glaubwürdigkeit zu verbinden, sage ich Ihnen auch einmal, was wir in den linksregierten Ländern in Bezug auf diese Punkte genau tun, um deutlich zu machen, was die Bundesregierung nicht macht.

Erstens. Wir brauchen mehr Kitaqualität. Wir als Linke stehen – aber auch Kollegen der SPD vertreten das nach wie vor – weiter für bundesweite Standards in einem Kitaqualitätsgesetz. Das heißt, dass wir uns, was die Fachkraft-Kind-Relation anbetrifft, annähern müssen. Da muss es bundesweite Standards geben. Dies gilt auch für Leitungsfreistellungen und gute Essensversorgung. Des Weiteren muss es vernünftige Standards geben, was Raumkapazitäten und Außenbereiche angeht, usw. Diesen Prozess muss man vorantreiben. Den kann man nicht nur ankündigen. Inzwischen ist es so, dass man das machen muss. Im Grundgesetz ist von gleichwertigen Lebensverhältnissen in Deutschland die Rede. Das muss auch für die Allerjüngsten umgesetzt werden.

Ich sage Ihnen jetzt einmal, was Brandenburg gemacht hat. Bevor Rot-Rot an die Regierung kam, hat dort eine große Koalition regiert. Die hat den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz geschliffen. Das geschah, bevor der Bundes-Rechtsanspruch kam. Wir haben diesen Rechtsanspruch wiederhergestellt, und wir haben die Kitaqualität im Land deutlich verbessert. Das rot-rot regierte Brandenburg wird 2019, wenn zehn Jahre Regierungszeit vergangen sind, 1 Milliarde Euro mehr in die Verbesserung des Betreuungsschlüssels investiert haben. Wir haben im Land 3 000 Erzieherinnen und Erzieher – nur zur Verbesserung des Betreuungsschlüssels – zusätzlich eingestellt. Sie brauchen in diesem Zusammenhang nicht über Glaubwürdigkeit zu reden. Die Länder tun so etwas zum Teil, manchmal auch – was sehr bedauerlich ist – gegen die Widerstände vonseiten der SPD.

Zweitens. Es werden 100 000 neue Plätze geschaffen. Für diese 100 000 neuen Plätze fehlen aber die Erzieherinnen. Faktisch haben wir heute keine Erzieherinnen für diese 100 000 Plätze. Das heißt, dass wir über den Erzieherberuf sowie über eine Aufwertung desselben reden müssen. Wir müssen darüber reden, wie die Erzieherinnen für diese Plätze ausgebildet werden sollen. Ich sage Ihnen noch einmal: Das wird nicht gehen, indem sich die Länder weiter herausmogeln und die Kommunen neue Berufsbilder – wie in Bayern die Fachkraft für Mittagsbetreuung; das wird über die Bundesagentur mit einem Weiterbildungsbedarf von 40 Stunden gefördert – erfinden. Vielmehr brauchen wir in den Kindertagesstätten staatlich anerkannte Erzieherinnen und Erzieher mit einer ordentlichen Ausbildung. Das sind wir den Familien schuldig. Das heißt aber auch, den Beruf aufzuwerten, ihn für Männer attraktiver zu machen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das heißt aber auch, diesen Beruf endlich besser zu bezahlen. Da kann man nur noch einmal die Forderungen aus dem Streik der Angehörigen der Erziehungsberufe im letzten Jahr wiederholen: Wir brauchen eine deutliche – auch finanzielle – Aufwertung des Berufsbildes, damit mehr Menschen diesen Beruf ergreifen. Die brauchen wir nämlich in den Kitas.

Des Weiteren werden wir darüber reden müssen – eigentlich müssen wir das umsetzen –, dass der Erzieherberuf als Mangelberuf ausgewiesen wird, um ihn auch handhabbarer zu machen. Es kann doch nicht sein, dass wir überall im Land Kitas haben, die aber keine Erzieher finden. Diese Kitas können niemanden einstellen. Die Bundesagentur aber meldet immer, dass es keinen Bedarf gibt. Da passen Realität und das, was hier oben diskutiert wird, längst nicht mehr zusammen. Wir brauchen die Einstufung des Erzieherberufes als Mangelberuf.

(Beifall bei der LINKEN)

Drittens. Wir brauchen den Einstieg in die Beitragsfreiheit. Ich habe das bis jetzt nicht gesagt, aber der Kollegen Weinberg hat es ja von selber angesprochen. Ich sage ihm aber jetzt noch einmal deutlich: Wir brauchen den Einstieg in die Beitragsfreiheit.

(Beifall bei der LINKEN)

Warum? Wir brauchen ihn nicht, weil wir Menschen nur einfach so von den Beiträgen entlasten wollen. Nein, Kinderbetreuung ist eine Bildungsaufgabe. Und so, wie wir kein Schulgeld mehr haben, ist es auch völlig richtig, dass frühkindliche Bildung beitragsfrei sein muss. Deswegen brauchen wir den Einstieg in die Beitragsfreiheit. Den werden wir nicht von heute auf morgen bekommen. Aber das rot-rot regierte Brandenburg sowie auch andere Länder mit Regierungsbeteiligung von Linken, Grünen und SPD – zum Teil betrifft das auch, wie in Berlin oder Hamburg, die CDU – haben sich auf den Weg gemacht, die Beitragsfreiheit umzusetzen. Zu gleichwertigen Lebensverhältnissen gehört, diese Beitragsfreiheit in ganz Deutschland umzusetzen. Dafür brauchen wir erste Schritte.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir stimmen heute diesem Ausbauprogramm zu, aber wir werden nicht feiern, weil im Bereich der Kitas nicht alles gut ist und weil die Aufgaben, vor denen wir stehen, größer als das sind, was wir gerade bewältigen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)