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Norbert Müller: Kinderarmut nachhaltig bekämpfen

Rede von Norbert Müller,

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Franziska Brantner hat es gesagt: Arme Kinder werden diskriminiert, sie werden ausgeschlossen, sie haben eine schlechtere Gesundheit, sie werden häufig schlechter ernährt, sie haben schlechtere Bildungschancen, sie haben weniger Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe – das ist nicht nur der Kinobesuch –, und sie bleiben oft lebenslang arm. Wer lebenslang arm bleibt, der stirbt auch früher, der hat eine geringere Lebenserwartung, der ist auch im Alter arm. Das haben die Grünen im Feststellungsteil ihres Antrages alles sehr vorbildlich – wir könnten das fast nicht besser – beschrieben. Ich finde die Beschreibung völlig angemessen.

Ich weiß, dass das alles so ist. Die Grünen wissen, dass das so ist. Sie wissen, dass das so ist. Die Bundesregierung weiß, dass das so ist. Das Bemerkenswerte an dieser Debatte ist, dass wir über Kinderarmut nur reden, wenn die Opposition das beantragt. Das zeigt, Herr Kollege Weinberg, welchen Stellenwert das für die Bundesregierung hat. Im Koalitionsvertrag gibt es keine einzige Bezugnahme auf dieses Problem, und in dieser Wahlperiode fand nicht eine Debatte hier im Bundestag dazu statt, bei der die Koalition eigene Vorschläge eingebracht hat, wie sie Kinderarmut – das ist in erster Linie immer materielle Armut – beseitigen will.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nein, das haben Sie nicht getan. Über Kinderarmut reden wir hier nur, wenn Grüne und Linke es beantragen.

Die Wahrheit ist – der Eindruck drängt sich doch auf –: Ihnen ist Kinderarmut im Grunde egal.

(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das ist Unsinn, kompletter Unsinn und eine Unterstellung!)

Warum ist Ihnen Kinderarmut im Grunde egal? Weil: Wenn man über materielle Armut in den Familien reden will, dann muss man am Ende auch über den unermesslichen Reichtum in diesem Lande, der in immer weniger Händen konzentriert ist, reden.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Wenn wir Armut beseitigen wollen, dann müssen wir darüber reden, wie wir an die unermesslichen Reichtümer von einigen wenigen rangehen. Auch das gehört zur Wahrheit. Das heißt, wir müssen über eine Umverteilung großer Vermögen reden, wenn wir Kinderarmut nachhaltig beseitigen wollen.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Antrag der Grünen hat einen guten Feststellungsteil. Er verbleibt bei den vier Beschlusspunkten dann aber leider häufig auf der Überschriftenebene. Das finde ich sehr bedauerlich. Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass Sie versuchen, sich möglichst wenig festzulegen. Man weiß ja nicht, ob man im nächsten Jahr möglicherweise neue Partner hat, die sich bei der Frage, wie man Kinderarmut zurückdrängt, auch nicht festlegen wollen.

Sie fordern: Regelsätze für Kinder und Erwachsene in der Grundsicherung müssen so ermittelt werden, dass sie das Existenzminimum tatsächlich decken. Dann machen Sie das doch an Zahlen fest! Dazu gibt es diverse Vorschläge, unter anderem die Vorschläge der Diakonie. Diese haben wir übernommen. Folgende Beträge werden vorgeschlagen – ich möchte sie hier nennen –: Kinder bis 6 Jahre 326 Euro, zwischen 7 und 13 Jahren 366 Euro und zwischen 14 und 18 Jahren 401 Euro. Das sind fast 100 Euro für jedes Kind mehr, und das würde unmittelbar helfen, aus der Armut herauszukommen. Ich fordere Sie auf: Machen Sie Vorschläge, wie Sie das sächliche Existenzminimum der Kinder verlässlich sichern wollen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihr zweiter Punkt. Sie wollen Familien mit niedrigem Einkommen gezielt und bedarfsdeckend unterstützen. Dafür haben wir mit dem Kinderzuschlag bereits ein gutes Instrument,

(Sönke Rix [SPD]: Wer hat das denn eingeführt?)

das entbürokratisiert werden muss und deutlich ausgebaut werden müsste. Kollege Rix, Sie haben völlig recht, das haben Sie eingeführt. Aber es ist unzureichend.

(Dagmar Ziegler [SPD]: Genau! Irgendwas ist immer!)

Der Kinderzuschlag ist in den letzten Jahren erhöht worden, aber viel, viel zu wenig. Wir wissen: Der Kinderzuschlag ist das zentrale Instrument, mit dem wir relativ einfach Familien, die Einkommen aus eigener Arbeit haben, vor Hartz IV bewahren. Ich will es noch einmal sagen: 900 000 Kinder in Deutschland leben in Familien, in denen die Eltern aufstocken müssen. Sie gehen arbeiten – dadurch haben sie auch nicht so viel Zeit für ihre Kinder, Kollege Weinberg –, aber sie müssen aufstocken. Die Kinder sind deswegen arm.

Den vierten Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, verstehe ich nicht so ganz. Sie wollen das Ehegattensplitting vielleicht ein bisschen abschaffen, aber Sie wollen es für diejenigen offenhalten, die besonders davon profitieren. Sie schlagen dann eine Kindergrundsicherung vor, die man wahlweise durch die alten familienpolitischen Leistungen, durch das Ehegatten­splitting, ersetzen kann. Das Absurde an dem Ehegattensplitting, das ja Ehen fördern soll, ist, dass es folgende Wirkung hat: Je mehr Kinder in einer Ehe geboren werden, desto geringer ist die steuerliche Entlastung aus dem Ehegattensplitting. Das Ehegattensplitting ist ein zentrales Instrument, um zu verhindern, dass in Ehen Kinder geboren werden.

(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! Ich erkläre es Ihnen gerne noch einmal! – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es nicht verstanden!)

Denn die steuerliche Entlastungswirkung wird geringer, je mehr Kinder in Familien, deren Eltern verheiratet sind, geboren werden.

(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist verkehrt!)

Das ist als familienpolitische Leistung doch völlig irre. Auch ich bin dafür, dass wir das beseitigen und durch eine sinnvolle Kindergrundsicherung ersetzen.

(Beifall bei der LINKEN – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will zu den Forderungen der Linken kommen, weil wir nicht nur meckern wollen, sondern auch Vorschläge unterbreiten, die wir für finanzierbar und für sinnvoll halten.

Erstens. Die Grünen haben angesprochen – das finde ich auch richtig –, dass die Leistungen für alle Kinder gleich hoch sein sollen. Das heißt, die steuerliche Entlastungswirkung für jemanden, der von Kinderfreibeträgen profitiert, also wir zum Beispiel, die wir Kinder haben, muss mindestens genauso deutlich ausfallen wie das Kindergeld. Demnach ist ein Kindergeld von etwas mehr als 190 Euro für das erste Kind zu niedrig.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ab 1. Januar 2017 würde das angesichts der aktuellen Kinderfreibeträge 328 Euro Kindergeld bedeuten. Das klingt nach fürchterlich viel mehr, aber das hilft unmittelbar allen Familien, die durchschnittliche und geringe Einkommen haben. Selbst Familien mit etwas überdurchschnittlichen Einkommen hilft dies deutlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Wir müssen die Regelbedarfssätze sofort und deutlich erhöhen. Die Zahlen habe ich Ihnen genannt. Vor allen Dingen muss Schluss sein mit den Manipulationen bei den Regelbedarfssätzen.

(Sönke Rix [SPD]: Manipulationen?)

Es sind noch drei Wochen bis Weihnachten. Dass man Kindern, die von Hartz IV leben, bei der Berechnung der Regelbedarfssätze auch noch den Weihnachtsbaum herausrechnet, ist keine besonders christliche Politik.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese Kritik müssen Sie sich gefallen lassen. Die Manipulation der Kinderregelbedarfssätze muss aufhören. Es kann nicht sein, dass man alle möglichen Punkte von den Malstiften über das Eis im Sommer bis zum Weihnachtsbaum im Dezember herausrechnet.

Wir wollen den Unterhaltsvorschuss ausweiten. Das will auch die Bundesregierung. Es scheitert an der CDU/CSU-Fraktion. Wir wollen den Kinderzuschlag entbürokratisieren, und wir wollen, dass Leistungen aus einer Hand gewährt werden. Wir werden in der nächsten Sitzungswoche einen konkreten Vorschlag unterbreiten, wie das praktisch aussehen kann. Denn es ist für die Familien eine Zumutung, für das Kindergeld zu den Arbeitsämtern zu gehen, für die Grundsicherung zu den Jobcentern zu gehen und für Sonderbedarfe zu anderen Ämtern zu gehen usw. usf. Das überfordert Familien, und das hilft am Ende auch nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich komme zum Schluss. Ich will noch einen letzten Gedanken ansprechen. Herr Kollege Patzelt, es hat mich wirklich betroffen gemacht, wie Sie das Thema vorhin angesprochen haben. Sie waren Oberbürgermeister von Frankfurt/Oder. Das ist eine Stadt in Brandenburg, in der unglaublich viele Menschen ziemlich arm sind, vor allen Dingen Kinder. In Schleswig-Holstein – auch dort gibt es solche Städte – wurde vor nicht allzu langer Zeit eine Studie durchgeführt. Man hat geschaut, was Familien für den Schulbedarf ausgeben. Die durchschnittliche Summe, die eine durchschnittliche Familie für ein Schuljahr ausgibt, lag bei 1 500 Euro. Eine Familie, die von Hartz IV lebt, bekommt für ihr Kind 100 Euro für den Schulbedarf als Sonderbedarf: 70 Euro zu Beginn des Schuljahres und 30 Euro zum Halbjahr. Familien, die ein etwas besseres Einkommen haben, geben aber durchschnittlich 1 500 Euro aus; denn es ist nötig. Das zeigt, wie Bildungsungerechtigkeit funktioniert. In diesem Bereich können wir auf Bundesebene unmittelbar wirken.

Wir müssen auch nicht auf die Länder warten, um sicherzustellen, dass die Kinder, die in die Schule gehen, für die die Schulpflicht gilt, gleichgestellt werden. Sie sollten die gleichen Möglichkeiten haben, guten Unterricht zu erhalten, aber auch die Unterrichtsausstattung, die sie von zu Hause mitbringen, muss gleich gut sein.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)