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Norbert Müller: Keine entwürdigenden Zwangsuntersuchungen von jungen Geflüchteten

Rede von Norbert Müller,

Guten Morgen, sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Gäste! Die AfD-Fraktion blamiert sich mit ihrem Antrag auf zwingende Altersfeststellung bei minderjährigen Flüchtlingen – egal ob begleitet oder unbegleitet – nach Strich und Faden. Warum? Ich möchte Ihnen vier Gründe nennen.

Erstens war sie offenbar gar nicht in der Lage, ihren großangekündigten Gesetzentwurf fristgerecht einzubringen. Nun haben Sie Ihren Gesetzentwurf in einen Antrag umgewandelt, damit Sie hier wenigstens nicht mit leeren Händen dastehen; das wäre ein wenig peinlich gewesen. Großspurig wollen Sie andere zum Jagen tragen, und dann scheitern Sie hier an den simpelsten Regeln. Das ist ein Trauerspiel.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zweitens – das ist viel ernster –: Sie verstoßen systematisch gegen Recht, nämlich gegen die UN-Kinderrechtskonvention, gegen die EU-Aufnahmerichtlinie und gegen das Grundgesetz. Für eine zwingende medizinische Altersfeststellung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gibt es gegenwärtig gar keine Rechtsgrundlage. Selbst dann, wenn Sie es irgendwann einmal hinbekommen, Ihren Gesetzentwurf hier ordentlich einzubringen, und wenn er angenommen werden würde – was nicht passieren wird, wie wir nach dieser Debatte wissen –, wäre er schlicht verfassungswidrig, EU-rechtswidrig und verstieße gegen internationale Kinder- und Menschenrechte.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die EU-Aufnahmerichtlinie regelt zwar, dass das Alter eines minderjährigen Flüchtlings auch medizinisch festgestellt werden kann – aber eben nur kann. Die Europäische Union legt in der Aufnahmerichtlinie ausdrücklich klar, dass bei fortbestehendem Zweifel von Minderjährigkeit auszugehen ist. Das ist auch vernünftig, weil sonst die Gefahr droht, dass man einen Minderjährigen, der fälschlicherweise volljährig geschätzt wird, als Volljährigen behandelt, obwohl er in Wahrheit ein Kind ist. Damit verstoßen Sie wiederum gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Sie wissen ganz genau: Deutschland hat sie ratifiziert. 2011 ist sie voll in Kraft getreten. Ein solcher Verstoß wäre schlichtweg rechtswidrig.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber genau das bezweckt die AfD-Fraktion mit ihrem Antrag.

(Lachen des Abg. Dr. Alexander Gauland [AfD])

Kinderrechte und Menschenrechte – da können Sie jetzt ruhig lachen – sind Ihnen schlicht egal, erst recht, wenn es um die Menschenrechte und die Kinderrechte der von Ihnen so verabscheuten Flüchtlinge geht.

Drittens. Sie glauben ernsthaft, dass man das Alter eines Menschen exakt, also präzise, bestimmen kann. Das ist besonders absurd, weil Sie im Gegenzug Dokumente, die das Alter eines Geflüchteten belegen, am liebsten gar nicht akzeptieren wollen. Bundesärztekammer, Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, das Deutsche Kinderhilfswerk, SOS-Kinderdorf, alle drei kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbände, Terre des Hommes, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, alle seriösen Fachleute bestreiten, dass man das exakte Alter ermitteln kann.

Dabei haben wir in Deutschland drei Verfahren zur medizinischen Altersfeststellung:

Ein Verfahren ist das Röntgen der Hand. Dieses Verfahren ist hochumstritten, weil die Referenzwerte für Knochenvermessungen aus den USA der 30er-Jahre stammen. Der statistische Fehler bei einem 17-jährigen männlichen Jugendlichen liegt bei über 15 Monaten. Wenn man, was die Unionsfraktion, insbesondere die CSU-Landesgruppe, teilweise gefordert hat, möglichst das exakte Geburtsdatum bestimmen will, dann muss man bedenken: Der statistische Fehler bei einem 17-jährigen männlichen Jugendlichen liegt bei fünf Jahren. Dieser Jugendliche kann also 12 Jahre alt sein; er kann aber auch 22 Jahre alt sein. Das heißt, dieses Verfahren ist vollständig ungeeignet.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Hinzu kommt, dass der Präsident der Bundesärztekammer Montgomery noch einmal deutlich gemacht hat, dass das Röntgen ohne medizinische Indikation ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist.

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])

Womöglich sagen Sie: Das macht das Klinikum Hamburg-Eppendorf. – Ja, das stimmt. Das Klinikum Hamburg-Eppendorf sagt aber: Wir machen das natürlich nur freiwillig. – Das Landesjugendamt Hamburg sagt: Wenn die Jugendlichen zu dieser Freiwilligkeit nicht bereit sind, gehen wir automatisch von Volljährigkeit aus. – Das ist ein Witz. Es verstößt gegen jede Form ethischer Standards in der Medizin. Dagegen wenden sich die Bundesärztekammer und auch der Deutsche Ärztetag.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber Ihr eigentlicher Liebling scheint das zu sein – Sie wollen das explizit –, was die „taz“ bereits im Sommer 2015 berichtete und seitdem in Deutschland keine Praxis mehr ist: „Schwanzvergleich bestimmt das Alter.“ Verzeihen Sie, Herr Präsident, das sind Worte aus der Presse und nicht meine. Die „taz“ berichtete damit über eine sehr verdienstvolle Anfrage der FDP-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft. Sie machte nämlich öffentlich, dass man in Hamburg mit Beschau des Genitals und der weiblichen Brust das Alter eines minderjährigen Flüchtlings exakt festzustellen glaubte. Deswegen ist in die Stellungnahme der Bundesregierung zur Begründung des Umverteilungsgesetzes aufgenommen worden, dass das in Zukunft in Deutschland auszuschließen ist. Die deutsche Bundesärztekammer wehrt sich explizit dagegen, dass Penis oder Brust betastet werden, um festzustellen, wie alt Jugendliche sind.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie des Abg. Michael Theurer [FDP])

Viertens. Sie täuschen Ihre eigene Klientel, weil Sie mehr Sicherheit versprechen. Das ist natürlich blanker Unsinn. So werden keine Straftaten verhindert. Wir brauchen eine Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe. Da ist im Bund in den letzten Jahren zu wenig passiert. Wir brauchen die Ausweitung der Hilfen für junge Volljährige, gerade für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die mit 18 eben nicht aus allen Hilfsangeboten heraus sein sollen. Es ist völlig inakzeptabel, dass Kinder und Jugendliche, die unbegleitet sind, aus der Jugendhilfe herausfallen, wenn sie volljährig werden. Gerade sie müssen wir besonders schützen.

Letzter Gedanke, Herr Präsident. – Das sage ich auch in Bezug auf die vorherige Debatte: Wir brauchen den Familiennachzug gerade für diese Gruppe, weil er Integration erleichtert, weil wir damit viele aus der Kinder- und Jugendhilfe herausbekommen und weil diesen Jugendlichen nichts Besseres passieren kann. Was wir nicht brauchen, sind verstümperte Anträge der AfD-Fraktion, die nur Stimmung gegen Geflüchtete machen will.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)