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Nicht Anpassung ist gefragt, sondern gemeinsames Neues Denken

Rede von Roland Claus,

Rede des Haushaltspolitischen Sprechers und Ostkoordinators der Fraktion DEI LINKRE, Roland Claus, in der Debatte zum Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit am 10.10.2014

Roland Claus (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht zu Beginn etwas zur Versöhnung: Ich habe in der Debatte über den letzten Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit und in den Jahren zuvor häufig beklagt, dass es im Bundestag eine unsichtbare ostdeutsche Mehrheit bei dieser Frage gibt. Ich habe heute den Eindruck, dass sich das wesentlich gebessert hat. Wir erfahren wesentlich mehr Zuspruch bei diesem Thema. Ich stelle mit Befriedigung fest: Es geht doch, links wirkt!

(Beifall bei der LINKEN ‑ Widerspruch bei der CDU/CSU)

Seitens der CDU ist uns gesagt worden: Wir entlassen Sie nicht aus Ihrer Verantwortung für die Geschichte. Da muss ich Ihnen antworten: Das ist ungeheuer anmaßend. Wir entscheiden noch immer selbst, wie wir uns dazu verhalten. Und wir wollen nicht aus dieser Verantwortung entlassen werden. Das entscheiden aber nicht Sie.

(Beifall bei der LINKEN ‑ Zurufe von der CDU/CSU)

Ich habe nicht vergessen, wie ich mit 34 Jahren in Halle Abend für Abend der Adressat für Protest und Kritik von Tausenden Bürgerinnen und Bürgern war. Die unter solchen Schmerzen und Bitternissen gewonnenen Erkenntnisse bleiben für uns in der Erinnerung und sind uns eine Mahnung. Wir haben auch nicht vergessen, dass unsere Vorgängerpartei nicht in der Lage war, sich selbst geistig zu befreien,

(Mark Hauptmann (CDU/CSU): Das sind Sie doch bis heute nicht!)

sondern eine Befreiung von außen nötig hatte. Diese Erkenntnisse haben uns geprägt, und die werden wir in Erinnerung behalten.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Jahresbericht beginnt mit einem historischen Rückblick. Das ist ebenso angemessen wie inzwischen auch vielseitig verklärt. Wir hatten noch nie eine solche Flut von Umfragen dazu, wie man die deutsche Einheit interpretieren kann. In diesem Zusammenhang kann man die Frage stellen: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Gott und den Historikern? Die Antwort lautet: Gott kann die Geschichte nicht mehr ändern.

(Heiterkeit bei der LINKEN)

Ich will mich deshalb an die Fakten halten. Wie bewerten Bürgerinnen und Bürger die deutsche Einheit? Das ist in der Tat sehr interessant: Im Osten bewerten 75 Prozent die deutsche Einheit positiv, im Westen sind das nur 48 Prozent. Das heißt, nicht einmal die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger im Westen und Süden der Republik bewertet die Einheit positiv. Nehmen wir die unter 30-Jährigen, also die Jahrgänge 85 und jünger: Im Osten bewerten 96 Prozent von ihnen die deutsche Einheit positiv und im Westen 66 Prozent. Das sind Menschen, die keinerlei Erfahrungen aus dem geteilten Deutschland haben. Hier reproduziert sich also geschichtliche Erfahrung auf eine interessante Weise. Aber das muss uns doch auffordern, daraus etwas abzuleiten. Der Grund für diese unterschiedliche Einschätzung ist natürlich, dass im Westen und Süden die Vereinigung keine positiven Erfahrungen für die Menschen und ihren Lebensalltag gebracht hat. Das Einzige, das im Bewusstsein geblieben ist, ist, dass der Soli zu zahlen ist. Nichts oder fast gar nichts aus der DDR wurde für deutschlandtauglich erklärt. Das war ein Fehler.

(Beifall bei der LINKEN)

Dietmar Bartsch ist hier bereits darauf eingegangen, dass der Jahresbericht in seiner Analyse wesentlich besser, genauer und präziser geworden ist. Ja, das stimmt: Die Analyse ist besser. Aber leider ist das bei den Schlussfolgerungen nicht der Fall. Deshalb lautet die Denksportaufgabe für uns weiterhin: Was lernen wir für ganz Deutschland aus dieser Entwicklung im Osten, aus diesen Umbrüchen, aus diesem Umgang mit der Transformation? Wir haben das in unserem Entschließungsantrag ausdrücklich deutlich gemacht und diese Transformationserfahrungen - wenn ich das übersetze ‑, also persönlich gemachte Erfahrungen bei der Bewältigung gesellschaftlicher Umbrüche, hervorgehoben.

Sie haben hier einen anderen Begriff benutzt und gesagt: Wir haben bedeutende Anpassungsleistungen erbracht. - Das fanden Sie auch noch besonders prima. Ich kann nicht finden, dass Anpassung an ein System ‑ wie im Westen so auf Erden ‑ die Lösung der Zukunftsaufgaben ist. Wir müssen in dieser Situation neu denken und gerade das, was der Osten als Erfahrungsvorsprung neu einbringt, aufnehmen. Da ist Anpassungsleistung für mich kein positiv besetzter Begriff.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich wünsche mir deshalb, dass wir über diese besonderen Erfahrungen, die im Osten für die ganze Republik gemacht wurden, noch weiter nachdenken und dass wir zur Kenntnis nehmen, dass wir natürlich noch eine ungleiche wirtschaftliche und Einkommensentwicklung haben. Wir stagnieren bei zwei Dritteln. Wir erreichen bei den kommunalen Steuern im Osten nur 58 Prozent des Bundesniveaus. Der Knüller ist natürlich das, was Sie sich bei der Mütterrente geleistet haben: 25 Jahre deutsche Einheit und dann noch immer eine ungleiche Anerkennung von Erziehungsleistungen - das ist ein Skandal. Das wird Ihnen die Linke nie durchgehen lassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gibt im Osten viele Ansätze für neue Entwicklungspfade in Sachen sozialökologischer Umbau, bei der Förderung erneuerbarer Energien und beim Stadtumbau. All diese Erkenntnisse und all diese gewonnenen Erfahrungen - auch die gemachten Fehler - stellen ein Feld dar, das völlig brachliegt und viel zu wenig für die gesamtdeutsche Entwicklung genutzt wird.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege.

Roland Claus (DIE LINKE):

Deshalb wünschen wir uns eins: dass der nächste Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit in der Analyse lobenswert für uns ist

(Zuruf von der CDU/CSU: Für Sie mit Sicherheit nicht!)

und dass er in den Schlussfolgerungen endlich vorankommt und nicht bei dem stehen bleibt, was wir jetzt vorliegen haben.

(Beifall bei der LINKEN)