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NATO-Krieg in Afghanistan ist Auslöser der Krise in Zentralasien

Rede von Sevim Dagdelen,

Rede am 7.10.2010 zum Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN "Kirgisistan unterstützen - Den Frieden sichern" - BT-Drs. 17/3202

In Zentralasien versinkt ein Staat im Chaos und die Welt ist ratlos. Wir alle wissen, dass sich die Minderheitenkonflikte in Kirgisien schnell zu einem Flächenbrand ausweiten können. Vielen ist auch klar, dass wir es in Zentralasien längst mit einem Flächenbrand zu tun haben, in dessen Zentrum und dessen Auslöser der NATO-Krieg in Afghanistan ist. Die wenigsten aber wollen die Destabilisierung, die vom Afghanistankrieg auch für Usbekistan und Kirgisien ausgeht, wahrhaben. Die Destabilisierung hingegen, die für Pakistan ausgeht, ist mittlerweile unumstritten, wie in der Rede von der „AfPak-Region" deutlich wird. Die beiden offensichtlichen und weithin bekannten Ursachen für diese Destabilisierung sind die Tatsache, dass Pakistan als Rückzugsgebiet islamistischer Kämpfer und als Hauptversorgungsroute der US-amerikanischen Streitkräfte dient. Die völkerrechtswidrigen Angriffe der US-Armee auf pakistanischen Boden mit unbemannten Drohnen und zuletzt auch bemannten Waffensystemen haben mittlerweile dazu geführt, dass Pakistan seine Grenzen für die NATO-Transporte geschlossen hat. Die wartenden LKWs wurden von militanten Islamisten mehrfach angegriffen. Fast kann man von einem gemeinsamen Vorgehen der pakistanischen Sicherheitskräften mit den Guerilla-Kämpfern ausgehen. Die Islamisten finden breiten Rückhalt in der Bevölkerung und auch in Teilen der Armee, weil Pakistan und die pakistanische Regierung von der NATO in einen Krieg gezwungen werden, den Armee und Bevölkerung nicht unterstützen.

Dasselbe ist in Kirgisien und Usbekistan der Fall. Beide sind Rückzugs- und Rekrutierungsbasis für die Gegner der NATO in Afghanistan und über beide wickelt die NATO ihren militärischen Nachschub ab, während gleichzeitig die Gegenseite ihre Drogen über diese Länder exportiert und damit die Organisierte Kriminalität in diesen Ländern zu einer politischen Macht gedeihen lässt. Da die NATO ihren fatalen Krieg in Afghanistan aber auf Gedeih und Verderb fortsetzen will und dazu die Militärbasen in Termez und Manas aufgrund der jüngsten Spannungen mit und Angriffe in Pakistan noch dringlicher denn je braucht, kann sie in der Region keine deeskalierende, unabhängige Politik verfolgen. Die Staaten, die am Afghanistan-Krieg beteiligt sind, müssen auf Biegen und Brechen mit jeder Regierung in Taschkent und Bischkek zusammenarbeiten, egal wie korrupt diese ist, egal ob sie sich an die Macht geputscht hat und egal wie sehr sie ihre eigene Bevölkerung unterdrückt.

Kein Wunder, dass es in diesem Kontext zu Spannungen kommt. Die Herrscher-Cliquen bereichern sich Maßlos an den Einnahmen, die sich aus der Kriegslogistik ergeben, die Familie des gestürzten Präsidenten Bakiyev soll alleine 2009 Aufträge in Höhe von bis zu 80 Mio. US$ für das Pentagon übernommen haben. Gleichzeitig machte das organisierte Verbrechen Millionengewinne mit dem Opiumhandel. Für die einfache Bevölkerung hingegen gibt es keinerlei Perspektiven, um der Armut zu entfliehen – außer der Emigration. 2008, vor Beginn der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise, bestand ein Viertel des kirgisischen Nationaleinkommens aus Auslandsüberweisungen junger Kirgisen, die überwiegend in Russland und Kasachstan beschäftigt waren. Die Arbeitsmigranten aus den zentralasiatischen Staaten waren diejenigen, die als erste und am härtesten von der Wirtschaftskrise betroffen waren. Millionen von ihnen kehrten mit der Wirtschaftskrise zurück – geschätzte 500.000 alleine nach Kirgisien. Beobachter warnten bereits Ende 2009, dass die kirgisische Wirtschaft diesen überhaupt keine Perspektive biete. Da jegliche politische Opposition unterdrückt werde, sei abzusehen, dass sich viele Arbeitslose entweder den militanten Islamisten oder der Organisierten Kriminalität anschließen und es bald zu Aufständen kommen würde.

Und so ist es doch gekommen.

Die Pogrome im Juni 2010 trafen v.a. die usbekische Minderheit und fanden in unmittelbarer Nähe zur usbekischen Grenze statt. Viele befürchteten damals, der unberechenbare usbekische Präsident Karimow könnte seine Truppen mobilisieren und über die Grenze marschieren lassen. Diese Eskalationsstufe wurde zum Glück vorerst noch nicht beschritten. Die Frage ist aber: Wie hätte die Bundesregierung sich hierzu verhalten können, die für ihren Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan auf den Stützpunkt im usbekischen Termez angewiesen ist und hierfür selbst zu den schwersten Menschenrechtsverletzungen der usbekischen Regierung schweigt?

Eine Schockstarre hat die internationale Gemeinschaft nach dem Umsturz im April in Kirgisien ergriffen und reflexartig – wie im vorliegenden Antrag der Grünen – werden altbekannte Rezepte hervorgekramt, die Forderungen nach internationalen Polizei- und Militäreinsätzen. Doch bislang ist kein Land bereit, sich in dieser Form in Kirgisien zu engagieren. Weil alle wissen, dass sie die Lage nicht in den Griff bekommen werden, so lange die NATO in Afghanistan ist. Keiner will die Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hat: nicht die NATO und die USA, die sich mit Osterweiterung, Afghanistankrieg und der sogenannten Tulpenrevolution tief in den Einflussbereich Russlands eingegraben und Zentralasien zum Austragungsort eines „neuen Kalten Krieges" mit Russland gemacht hat und auch nicht Russland selbst.

Doch die altbekannten Rezepte werden den Flächenbrand nur beschleunigen. Die International Crisis Group, die bereits der militärischen Zerschlagung Jugoslawiens das Wort geredet hat, schreibt: „Unglücklicherweise könnte es schon zu spät sein für alle Bemühungen, dem gespaltenen Land die Einheit wiederzugeben. Zu weit sind die Desintegrationsprozesse fortgeschritten, zu viel ist geschehen. Deshalb muss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Krisenintervention planen, sodass die Staatengemeinschaft in der Lage ist, kurzfristig und effizient auf alle Wellen der Gewalt und Flüchtlingsströme in der Region zu reagieren." Hier wird einer Teilung Kirgisiens unter internationaler militärischer Beihilfe entlang ethnischer Linien das Wort geredet. Ein Experiment, welches die NATO mit tatkräftiger Unterstützung der Crisis Group bereits auf dem Balkan durchgeführt hat und mit dem sie bereits dort grandios gescheitert ist. In Zentralasien, wo instabile Regime eine Vielzahl von Bevölkerungsgruppen umfassen, große Rohstoffvorkommen existieren und das durch die NATO zum Schauplatz eines „Neuen Kalten Krieges“ mit Russland gemacht wurde, ist das Eskalationspotential noch ungleich höher.

Die verfahrene Lage in Kirgisien und Zentralasien muss zu einem wirklichen Umdenken führen. Die NATO muss ihre Niederlage in Afghanistan eingestehen und das Konfliktpotential, das von diesem Krieg für die gesamte Region ausgeht. Der Abzug der NATO aus Afghanistan muss einhergehen mit der Feststellung, dass dieses Militärbündnis seine Grenzen überschritten hat, im wahrsten Sinne des Wortes eine Gefährdung des Weltfriedens darstellt und deshalb aufgelöst gehört. Der Westen muss aufhören, seinen Einflussbereich auch militärisch immer weiter in den Osten auszudehnen – dies überfordert auch seine Kräfte – und die legitimen Interessen Russlands anerkennen. Grundlage hierfür kann der von Russland vorgeschlagene euro-atlantische Sicherheitsvertrag sein. Nur wenn die militärische Konfrontation beendet wird, kann kooperativ die wirtschaftliche Entwicklung und Demokratisierung Zentralasiens unterstützt werden und sich diese Region stabilisieren.