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Nach Post-Mindestlohn nun endlich einen gesetzlichen Mindestlohn in ganz Deutschland einführen

Rede von Oskar Lafontaine,

Oskar Lafontaine in der Debatte über den von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Fraktion stimmt der Vorlage zur Einführung eines Mindestlohns zu. Wir stimmen auch der eröffnenden Bemerkung des Bundesarbeitsministers zu, dass dieses Gesetz eine positive Nachricht für viele Menschen ist, die davon betroffen sind. Insofern werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Guido Westerwelle (FDP), zur CDU/CSU gewandt: Das ist eure Gesellschaft!)

Wir sind auch der Auffassung, dass die bisher gegen den Mindestlohn ins Feld geführten Argumente nicht tragen. Das gilt insbesondere für die Argumente, die Kollege Westerwelle von der FDP hier vorgetragen hat. Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Westerwelle, vorhalten, dass Sie ein fundamentales Missverständnis von der Funktionsweise der sozialen Markwirtschaft haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Dieses fundamentale Missverständnis besteht darin, dass der Wettbewerb in einer sozialen Markwirtschaft auch einen Wettbewerb um möglichst niedrige Löhne zulässt. Genau das haben Sie hier vorgetragen. Dies hat mit der Idee der sozialen Marktwirtschaft überhaupt nichts zu tun. Auch insoweit kann ich die Ausführungen des Bundesarbeitsministers hier unterstützen.
An die Adresse der CDU/CSU möchte ich sagen, dass in Ihren Reihen einst ein Bundestagsabgeordneter war, Franz Böhm, der die Funktionsweise der sozialen Marktwirtschaft an dieser Stelle genau erläutert hat. Er wies darauf hin, dass der Wettbewerb eine staatliche Veranstaltung ist,

(Lachen bei der FDP)

- das ist ein Zitat, wenn Sie über die Aussage eines der Gründerväter der Freiburger Schule lachen, qualifiziert Sie das nicht gerade,

(Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Staatlich organisiert!)

und dass diese staatliche Veranstaltung natürlich sicherstellen muss, dass es keinen Wettbewerb um niedrige Löhne geben darf. Ihren Ausführungen liegt eine völlig abenteuerliche Vorstellung zugrunde.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben hier nicht nur ein fundamentales Missverständnis von sozialer Marktwirtschaft offenbart, sondern Sie liegen auch mit Ihrem Vorwurf völlig falsch, hier ginge es darum, ein Abdriften in die Staatswirtschaft zu verhindern. Was der Staat hier macht, ist genau das, was in einer sozialen Marktwirtschaft seine Aufgabe ist: Er legt die Rahmenbedingungen fest, zu denen der Wettbewerb organisiert werden soll. Er möchte darauf hinwirken, dass Wettbewerb um die besseren Produkte, um die besseren Managementmethoden, um die besseren Dienstleistungen, um die besseren Verfahren usw. entsteht, aber nicht um möglichst niedrige Löhne. Das müssen Sie endlich akzeptieren, sonst können wir in diesem Hause nicht auf gleicher Grundlage über soziale Marktwirtschaft diskutieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie hier ein Abgleiten in die Staatswirtschaft monieren, dann liegen Sie völlig falsch. Hier setzt der Staat die notwendigen Rahmenbedingungen. Die Forderung, die Sie hier vortragen, wäre tatsächlich ein Abgleiten in die Staatswirtschaft, indem der Private ganz niedrige Löhne zahlt und der Staat den Rest drauflegen muss. Das wäre doch ein Abgleiten in die Staatswirtschaft, die im Grunde genommen von niemandem gerechtfertigt werden kann.

(Beifall bei der LINKEN - Ludwig Stiegler (SPD): Das ist liberaler Sozialismus!)

Deswegen ist über Mindestlöhne eine ordnungspolitische Debatte zu führen. Wenn Sie die Freiburger Schule nicht überzeugt, Herr Kollege Westerwelle, dann habe ich für Sie ein Buch mitgebracht: Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Aus diesem Buch möchte ich Ihnen einmal vorlesen:
Der Mensch ist darauf angewiesen, von seiner Arbeit zu leben, und sein Lohn muss mindestens so hoch sein, dass er davon existieren kann. Meistens muss er sogar noch höher sein, da es dem Arbeiter sonst nicht möglich wäre, eine Familie zu gründen.
Wann endlich begreifen Sie, dass das, was wir hier machen, im Grunde genommen die Grundlage jeder sozialen Marktwirtschaft ist?

(Beifall bei der LINKEN Abg. Dr. Guido Westerwelle (FDP) meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Es geht jetzt nach der üblichen Ordnung: Zunächst frage ich den Redner, ob er bereit ist, eine Zwischenfrage zuzulassen.

Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Selbstverständlich.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Er hat das bestätigt. Damit, Herr Kollege Westerwelle, haben Sie Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu stellen.

Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Herr Kollege Lafontaine, da Sie die Freiburger Schule meiner Meinung nach sehr aus dem Zusammenhang gerissen zitiert haben, möchte ich einen anderen Ökonomen zitieren, der sagte:
Der Ruf nach Gleichheit der Löhne beruht daher auf einem Irrtum, ist ein unerfüllbarer törichter Wunsch. Er ist die Frucht jenes falschen und platten Radikalismus, der die Voraussetzungen annimmt, die Schlussfolgerungen aber umgehn möchte.
Dieser Ökonom ist Ihnen sicherlich besser bekannt: Es war Karl Marx.

(Beifall bei der FDP)

Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Herr Kollege Westerwelle, Sie haben schon bessere Bemerkungen gemacht. Karl Marx hat selbstverständlich recht, und niemand hat heute gleiche Löhne für alle gefordert.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Entschuldigen Sie, aber Sie liegen völlig daneben. Haben Sie die Logik völlig außer Kraft gesetzt? Es geht nicht um gleiche Löhne für alle. Was Sie vorgetragen haben, ist absurd. Es geht nur darum um mit Adam Smith zu reden , dass der Mensch auf einen Lohn angewiesen ist, von dem er leben kann. Kein anständiger Mensch in diesem Hause sollte für Löhne plädieren, die darunter liegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich wundere mich - an dieser Stelle ist in der Tat ein Zerwürfnis festzustellen -, dass Sie das offensichtlich moralisch nicht erreicht. Adam Smith war nicht in erster Linie Ökonom, sondern Moralphilosoph. Sie sollten ernsthaft über das nachdenken, was er festgestellt hat.
Soziale Marktwirtschaft heißt nicht, die niedrigsten Löhne zu bieten, und der Staat zahlt den Rest dazu. Was Sie vortragen und als liberale Wirtschaftspolitik reklamieren, ist absurd.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte darauf hinweisen, dass sich einige Kollegen meiner Fraktion der Stimme enthalten werden, weil sie nach wie vor der Auffassung sind - das ist auch die Auffassung der Gesamtfraktion -, das es heute nicht mehr zulässig ist, bei solchen Dienstleistungen zwischen Ost und West zu differenzieren. Das ist ungerecht.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese Zurücksetzung der Ostdeutschen ist nicht akzeptabel - wer auch immer das anstrebt ;

(Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Sie hatte immer schon ein Herz für Ostdeutschland!)

Denn man kann keinen Produktivitätsrückstand als ökonomisch vertretbares Argument diese Differenzierung anführen. Sie haben aber kein einziges vernünftiges ökonomisches Argument dafür.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist zwar richtig, dass im Osten noch niedrigere Löhne gezahlt werden als im Westen, was die unteren Tarifbereiche angeht,

(Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Der Unterschied steht im Tarifvertrag!)

aber ich muss Ihnen an dieser Stelle Heuchelei vorwerfen, Herr Kollege Brauksiepe. Sie haben als christlicher Demokrat - oder Sozialdemokrat oder was immer Sie inzwischen sein wollen - an die FDP gewandt ausgeführt, dass Sie der Auffassung sind, dass man in Deutschland keinen Lohn unter 6 Euro zulassen sollte. Wenn Sie tatsächlich dieser Auffassung sind, dann sollten Sie endlich aufhören, sich einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn zu verweigern. Andernfalls heucheln Sie in diesem Zusammenhang.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie stehen auch im Widerspruch zu den Lehren, auf die Sie sich angeblich immer wieder berufen. Ich halte Ihnen noch einmal vor, dass die christliche Soziallehre, die angeblich Fundament Ihrer Politik ist, einen gerechten Lohn fordert. Dass ein gerechter Lohn so definiert ist, dass man davon leben können muss, dürfte eigentlich jedem unmittelbar einsichtig sein. Insofern ist die Haltung der CDU/CSU an dieser Stelle nicht nachvollziehbar. Sie steht im Widerspruch zu Ihrem Bekenntnis zum christlichen Menschenbild. Das ist nicht nachvollziehbar.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Verweis auf die Tarifvertragsparteien ist pure Heuchelei oder Zynismus. Gerade Sie verweisen an dieser Stelle auf die Tarifvertragsparteien, obwohl Sie wissen, dass die Tarifvertragsparteien in vielen Fällen gar nichts mehr regeln können. Wenn Sie nur ein bisschen redlich sind, dann müssen Sie auch darauf eine Antwort haben, was geschieht, wenn die Tarifparteien nichts mehr regeln können. Sie müssten dann zu dem Ergebnis kommen, dass der Staat oder die Gesamtgesellschaft gefordert ist.
Ihre Verweigerung des gesetzlichen Mindestlohns ist in höchstem Maße unverantwortlich; denn Sie sind für Ausbeuterlöhne verantwortlich, die in Deutschland immer noch gezahlt werden. Sie sollten sich für die Verweigerung einer solchen zwingenden sozialpolitischen Regelung schämen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie sollten sich vielleicht einmal die Frage stellen - das richte ich auch an Sie, Kollege Westerwelle -, wie die Rente eines Menschen aussehen wird, der mit einem Stundenlohn von 5 Euro nach Hause geht. Haben Sie sich das jemals gefragt? Soll auch dann der Staat Geld drauflegen? Dass man die Mindestlohndebatte von der Rentenentwicklung abkoppelt, halte ich für einen Skandal. Es kann doch nicht wahr sein, dass Volksvertreterinnen und Volksvertreter diesen Zusammenhang nicht herstellen. Es ist unfassbar, was hier vorgetragen wurde.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn wir bei der Lohnentwicklung zulassen, dass Stundenlöhne von 3, 4 oder 5 Euro gezahlt werden, wie wollen wir dann jemals sicherstellen, dass die Menschen im Alter eine armutsfeste Rente beziehen? Insofern ist es auch wegen der Rentenerwartung in Zukunft - und zwar in einigen Jahrzehnten - dringend geboten, der schmutzigen Lohnkonkurrenz in Deutschland endlich durch einen flächendeckenden Mindestlohn einen Riegel vorzuschieben.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist doch überhaupt kein Wunder, dass im Gegensatz zu der anmaßenden Haltung vieler in diesem so genannten Hohen Hause

(Zurufe von der FDP)

- schreien Sie ruhig; an dieser Stelle ist es auch die richtige Gruppe, die schreit - 62 Prozent der Bevölkerung sagen: Es geht in Deutschland nicht mehr gerecht zu. Wir haben keine soziale Marktwirtschaft mehr. - Diese fast zwei Drittel der Bevölkerung analysieren die Verhältnisse in unserem Lande völlig richtig. Wenn nur noch 24 Prozent sagen, wir haben eine soziale Marktwirtschaft, dann sollte das doch jedem Anlass zum Nachdenken geben. Der gesetzliche Mindestlohn wäre eine Maßnahme, um der Bevölkerung zu signalisieren, dass wir dafür Sorge tragen wollen, dass es in diesem Land wieder gerechter zugeht.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Sie brauchen wir dazu nicht!)

Der gesetzliche Mindestlohn alleine ist es jedoch nicht. Sie haben, Herr Kollege Kauder, mit anderen zusammen dafür Sorge getragen, dass Deutschland der einzige große Industriestaat ist, in dem seit vielen Jahren die Reallöhne nicht mehr steigen. Das ist eine politisch organisierte Veranstaltung. Da ist nicht nur die Verweigerung des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns. Da ist auch Hartz IV mit der Verpflichtung, jeden Arbeitsplatz unabhängig von der Qualifikation und der Lohnhöhe anzunehmen. Da ist auch die totale Öffnung der Leiharbeit, die Sie alle organisiert haben. Damit sind Sie verantwortlich dafür, dass immer mehr Menschen zunächst entlassen werden, dann durch die Drehtür wieder hereinkommen und nur noch die Hälfte des Lohnes bekommen. Da ist das grenzenlose Öffnen für befristete Arbeitsverträge, was natürlich dazu führt, dass diejenigen, die davon betroffen sind, sich nicht mehr in ausreichender Form zur Wehr setzen können. Und da ist das Ausufern der Tatsache, dass immer mehr Minilöhne und Minijobs reguläre Arbeitsverhältnisse ersetzen. Eine faire Lohnfindung ist aufgrund dieses gesetzlichen Rahmenwerkes in Deutschland seit vielen Jahren nicht mehr möglich.
Wir sind der einzige Staat, in dem es seit vielen Jahren keine Reallohnzuwächse mehr gibt. Sie können darüber lachen, es ignorieren und die ökonomischen Folgen, die sich im Übrigen bald wieder bemerkbar machen werden, übersehen. Laut OECD haben wir eine Rentenformel, die demjenigen, der im Monat 1 000 Euro brutto bekommt, eine Rentenerwartung von 390 Euro in Aussicht stellt. Diese Entwicklungen sind politisch mitorganisiert worden. Sie zeigen, dass die Politik in den letzten Jahren auf dem völlig falschen Weg war. Man kann sich nicht hier immer zu der Formel „Wohlstand für alle“ bekennen, die immer zur Grundlage hatte, dass der Produktivitätszuwachs so steht es im Buch des Säulenheiligen den Konsumentinnen und Konsumenten voll zugutekommt. Auch diese Regel ist seit vielen Jahren verletzt worden. Schon seit vielen Jahren ist der Produktivitätszuwachs nicht mehr der Arbeitnehmerschaft in Deutschland zugutegekommen.
Wir als Vertretung der Bevölkerung sollten zur Kenntnis nehmen, dass zwei Drittel der Bevölkerung seit langem der Auffassung sind, dass es in diesem Land nicht mehr gerecht zugeht. Wir werden nach wie vor dafür eintreten, dass eine erste Maßnahme, um Gerechtigkeit wiederherzustellen, sein wird, in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, unterhalb dem niemand beschäftigt werden darf, weil es menschenunwürdig ist, Leute unter dieser Einkommensgrenze zu beschäftigen.

(Beifall bei der LINKEN)