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Mindestlohn: Sozialdemokratisches Vorzeigeprojekt im Koalitionsvertrag wird zum Rohrkrepierer

Rede von Klaus Ernst,

Klaus Ernst (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir bringen heute einen Gesetzentwurf ein, der wortgleich dem Gesetzentwurf ist, der vom Bundesrat am 1. März 2013 mit der Zustimmung der SPD, der Grünen und der Linken beschlossen wurde. Die Höhe des Mindestlohns wird in diesem Gesetzentwurf auf 8,50 Euro festgelegt. Wir wissen: Er schützt nicht vor Altersarmut. Ein Mindestlohn von 10 Euro wäre notwendig, um eine Rente zu erhalten, mit der man im Alter über der Grundsicherung läge, wenn man 45 Jahre lang zu einem solchen Lohn gearbeitet hätte.

Wir bringen diesen Gesetzentwurf trotzdem ein, weil es hier im Deutschen Bundestag eigentlich eine Mehrheit dafür gibt. Die SPD, die Grünen und wir, wir alle haben im Wahlkampf massiv dafür geworben, einen entsprechenden Mindestlohn zu beschließen, und zwar im Gegensatz zu dem, was im Koalitionsvertrag vereinbart wurde ‑ ich sage das hier gleich ‑, für alle und nicht erst ab 2017, sondern jetzt. Das steht im Gesetzentwurf des Bundesrates.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben hier eine Mehrheit dafür und könnten wirklich das Unwesen stoppen, dass Menschen trotz Vollzeitarbeit nicht von ihrem Lohn leben können und zum Amt gehen müssen, um aufzustocken. Ich sage Ihnen: Ich habe den Eindruck, dass die Wähler ‑ auch die Wähler der Sozialdemokratischen Partei ‑, nachdem wir alle im Wahlkampf dafür geworben haben und auch dafür gewählt wurden, nicht verstehen, warum es hier im Deutschen Bundestag eine Mehrheit dafür gibt, diese Mehrheit aber offensichtlich nicht zum Tragen kommt und wir nicht rasch einen Mindestlohn für alle verabschieden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich glaube, wenn es Schule macht, dass wir ohne Not trotz Mehrheit diese Mehrheit nicht realisieren und entsprechende Gesetze beschließen, dann bekommen wir irgendwann das Problem, dass sich die Leute fragen, warum sie eigentlich zur Wahl gehen,

(Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Verstehen Sie das wirklich nicht?)

wenn hinterher etwas ganz anderes herauskommt, als Sie in Ihren Wahlprogrammen vereinbart und den Wählern versprochen haben. Meine Damen und Herren, Sie haben jetzt die Möglichkeit, das zu korrigieren; das ist dringend notwendig.

In den Koalitionsverhandlungen haben Sie zugestimmt, dass die Mindestlöhne von 8,50 Euro erst ab 2017 uneingeschränkt gelten. Das ist das Jahr, in dem die nächste Bundestagswahl stattfinden wird. Das ist die Position, die Sie vereinbart haben.

Im Übrigen: Für wen gelten diese Mindestlohnregelungen erst ab 2017? Ausgerechnet für die, die gewerkschaftlich organisiert sind, weil Tarifverträge, in denen ein Lohn unterhalb der Grenze von 8,50 Euro vereinbart wurde, bis 2017 weiter gelten sollen. Wissen Sie eigentlich, was Sie hier machen? Ich weiß nicht, ob Ihnen das bewusst ist. Sie stellen damit Gewerkschaftsmitglieder deutlich schlechter als die anderen Beschäftigten. Für diese gilt der Mindestlohn. - Da brauchen Sie nicht mit dem Kopf zu schütteln. Lesen Sie doch einmal Ihren Koalitionsvertrag durch! Vielleicht hilft das in diesem Fall. Dann stellen Sie nämlich fest, dass für einen Teil der Beschäftigten der Mindestlohn ab 2015 und für die anderen erst ab dem 1. Januar 2017 gelten soll.

Das bedeutet: Eine ungelernte Verkäuferin im Fleischerhandwerk in Sachsen-Anhalt erhält 5,53 Euro. Dieser Lohn gilt weiter. Der Tariflohn im Gaststättengewerbe im Saarland von 7,38 Euro gilt weiter. Wissen Sie eigentlich, was Sie da machen? Wissen Sie wirklich, was Sie da tun? Ich glaube das nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Die CDU hat sich in dieser Frage möglicherweise durchgesetzt. Dabei tun Sie immer so, als ob Sie die Tarifautonomie retten wollten. Wenn Sie Gewerkschaftsmitglieder schlechterstellen als die übrigen Beschäftigten, dann retten Sie nicht die Tarifautonomie. Sie gefährden sie! Das ist das, was Sie wirklich wollen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine weitere Formulierung lässt den Schluss zu, dass Sie im Übrigen Saisonarbeiter von einem Mindestlohn generell ausnehmen wollen. Es heißt im Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dort steht nichts von der Würde des Deutschen.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch für ungarische, polnische oder sonstige Saisonarbeiter gilt das Grundgesetz. Von einem Lohn muss man anständig leben können. Unmöglich, was Sie da vereinbart haben.

Und: Erst ab 1. Januar 2018 planen Sie eine erste Erhöhung der Mindestlöhne. Das bedeutet, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro durch die Preissteigerung dann vielleicht nur noch 8 Euro wert ist. Damit erreichen Sie noch nicht einmal das, was Sie wirklich wollen, nämlich dass die Leute mit einer Arbeit nicht mehr aufstocken müssen. Viele werden zu diesem Zeitpunkt wieder zu Aufstockern werden, weil ihr Geld nicht reicht.

Meine Damen und Herren, was als sozialdemokratisches Vorzeigeprojekt geplant war, ist ein purer Etikettenschwindel.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Johannes Singhammer:

Herr Kollege.

Klaus Ernst (DIE LINKE):

Ich bin sofort fertig.

Vizepräsident Johannes Singhammer:

Herr Kollege Ernst, ich wollte Sie nur fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen. Ich wollte nicht Ihre Redezeit beschneiden.

Klaus Ernst (DIE LINKE):

Das finde ich sehr nett von Ihnen. Gerne lasse ich die Zwischenfrage zu. Wer möchte mir denn eine Zwischenfrage stellen?

Martin Patzelt (CDU/CSU):

Herr Abgeordneter Ernst, ich will in Ihre Begründung hinein nur zu meiner Vergewisserung die Frage stellen: Würden Sie mit diesem Gesetzentwurf tatsächlich wissentlich das Risiko eingehen, dass Sie eine ganze Reihe von jungen Unternehmern und Dienstleistern in strukturschwachen Gebieten - ich weiß, wovon ich rede - in die Insolvenz treiben oder zur Aufgabe ihres Unternehmens zwingen? Würden Sie gleichzeitig, da Sie immer für die Arbeitnehmer eintreten, eine ganze Reihe, Hunderte, ja vielleicht Tausende Arbeitnehmer, die zumindest einen Teil ihres Lebensunterhaltes selber bestreiten und auch bestreiten wollen, dann in die völlige Abhängigkeit von Sozialtransfers schicken?

Klaus Ernst (DIE LINKE):

Herr Kollege Patzelt, danke für die Frage. Selbstverständlich wollen wir eines nicht, dass tatsächlich abhängig Beschäftigte durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ihren Job verlieren. Es gibt keine einzige Studie in dieser Republik oder in Europa, die den Zusammenhang herstellt, dass mit der Einführung eines Mindestlohns Arbeitsplätze verloren gehen. Keine einzige Studie!

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Kollege, Sie haben es wahrscheinlich nicht mitbekommen: Wir waren im letzten Jahr mit dem Ausschuss für Arbeit und Soziales in Österreich.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Da haben Sie Ihr Ferienhaus!)

Dort gibt es einen faktischen Mindestlohn von 8,50 Euro. Die Arbeitslosigkeit, insbesondere auch die Jugendarbeitslosigkeit, hat in Österreich dasselbe niedrige Niveau wie hier, trotz eines faktischen Mindestlohns von 8,50 Euro. Es gibt also keinen Zusammenhang zwischen der Höhe des Mindestlohns und der Beschäftigung. Im Gegenteil, es gibt einen Zusammenhang, dass durch mehr Kaufkraft bei den Beschäftigten, die gegenwärtig 4 oder 5 Euro verdienen, die Nachfrage steigen könnte, was insbesondere dem Mittelstand und kleineren und mittleren Unternehmen zugutekäme. Das ist der Zusammenhang. Ich hoffe, dass Sie sich den einmal wirklich vor Augen führen.

(Beifall bei der LINKEN)

Danke schön. Sie dürfen sich setzen.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das geht Sie gar nichts an!)

Wollen Sie eine Zusatzfrage stellen?

(Hubertus Heil (Peine) (SPD): Jetzt ist es aber gut! Das ist hier doch keine Talkshow!)

Martin Patzelt (CDU/CSU):

Wenn Ihre Argumente stimmen: Warum wollen Sie das Ganze jetzt mit einer Hauruckaktion durchziehen, anstatt die Vereinbarung zwischen den Koalitionären abzuwarten und dann in einem kontrollierten Zeitraum mit abgefederten Folgen zu diesem Ziel zu kommen?

(Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Weil wir die letzten vier Jahre schon gewartet haben!)

Klaus Ernst (DIE LINKE):

Auch das ist eine schöne Frage. Weil wir seit vier Jahren, wenn nicht noch länger, in diesem Haus über die Mindestlöhne diskutieren. Weil inzwischen in ganz Europa um uns herum Mindestlöhne eingeführt worden sind ‑ teilweise fast 10 Euro; in Frankreich sind es über 9 Euro ‑ und weil die Leute es endlich satt haben, dass sie mit Billigstlöhnen abgespeist werden, von denen man nicht leben kann. Deshalb ist es Zeit, dass wir das endlich beenden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zum Schluss, meine Damen und Herren ‑ das sage ich insbesondere der SPD ‑: Sie haben jetzt die Möglichkeit, vor Ihren Wählern nicht das Gesicht zu verlieren. Sie haben die Möglichkeit, Ihre Mitglieder mit dem, was Sie vereinbart haben, nicht in Verzweiflung zu treiben, und Sie haben vor allem die Möglichkeit, den Frauen und Männern, die offensichtlich bis zur nächsten Bundestagswahl 2017 warten müssen, bis sie einen vernünftigen Mindestlohn kriegen, jetzt vernünftige Löhne zu verschaffen. Das ist wichtiger als Ministerämter im Bündnis mit falschen Partnern und gegen Ihre Überzeugung zu stimmen.

Danke fürs Zuhören.

(Beifall bei der LINKEN)