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Mehr Geld im Haushalt 2007 einstellen zur Erhöhung der Regelsätze des ALG II auf 420 Euro

Rede von Katja Kipping,

Katja Kipping (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wo viel Licht ist, da ist auch Schatten. Wer hier nur über eitel Sonnenschein berichtet, der zeigt, dass leider immer noch gilt, was Brecht einst schrieb:
Die im Dunkeln sieht man nicht.
Wie man mit 345 Euro über die Runden kommen soll, können sicherlich nur die wenigsten von uns nachempfinden.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Die Zahl stimmt nicht! Das wissen Sie doch!)

Stellen Sie sich vor, Sie müssen zum Zahnarzt und eine neue Zahnfüllung ist notwendig. Die gibt es heute nicht zum Nulltarif. Für uns wäre eine solche Behandlung sicherlich nicht angenehm, aber zumindest finanziell kein Problem. Für Arbeitslosengeld-II-Bezieher hingegen ist eine solche Zahnbehandlung ein enormes finanzielles Problem. Versuchen Sie einmal, von monatlich 345 Euro die entsprechende Summe beiseite zu legen. Die Erwerbslose Anja F. zum Beispiel konnte sich die notwendige Zahnbehandlung nur leisten, indem sie wochenlang extrem beim Essen sparte und eigentlich nur von Brot und Butter lebte.
Die Probleme, die mit einem Leben in Armut verbunden sind, sind vielfältig. Ich nenne ein weiteres Beispiel. Vor mehreren Wochen berichtete mir die 23-jährige Kati K. aus Chemnitz von folgendem Problem: Nach ihrer Ausbildung hat sie sich ein ums andere Mal beworben. Da sie aber keinen Führerschein hat, wollte sie niemand einstellen. Nun befindet sie sich in einem Teufelskreis: ohne Führerschein keine Arbeit, ohne Arbeit aber kein Geld und ohne Geld kein Führerschein. Sie fragte mich: Wie soll ich aus diesem Teufelskreis herauskommen? Meine Damen und Herren, was antwortet man einer jungen Frau, die in dieser Situation ist?
Solche und ähnliche Fälle kennt sicherlich jeder von uns aus dem eigenen Wahlkreis. Ich glaube, der Umgang damit fällt niemandem richtig leicht. Aber ich frage mich: Wie kompliziert muss diese Situation insbesondere für Sie sein? Denn Sie müssen den Leuten erklären, dass Ihrer Meinung nach 345 Euro im Monat ausreichend sind. Sie müssen den Leuten erklären, warum Sie immer wieder gegen eine Erhöhung der Regelsätze stimmen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Sie sich dabei gut fühlen. Auch kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie die vielen Betroffenen, von denen Sie in Ihrem Wahlkreis erfahren, in dem Moment vergessen, in dem Sie durch die Pforte des Bundestages gehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Deswegen appelliere ich an Sie: Stellen wir heute genug Geld in den Haushalt ein, um eine Erhöhung der Regelsätze auf mindestens 420 Euro zu ermöglichen!

(Beifall bei der LINKEN)

Wie Sie wissen, bin ich der Überzeugung: Das, was wir eigentlich brauchen, ist eine soziale Grundsicherung, die jedem Menschen ein Leben jenseits von Armut ermöglicht. 420 Euro sind wirklich das Mindeste, was ein Mensch im Monat braucht.
Einige von Ihnen werden einwenden, unsere Forderung sei erstens populistisch und zweitens nicht finanzierbar. Den Vorwurf des Populismus kennen wir; er ist nicht besonders originell.

(Klaus Brandner (SPD): Aber er ist immer noch wahr!)

Interessanter hingegen ist die Frage der Finanzierbarkeit. Der Bundesrechnungshof hat erst vor kurzem kritisiert, dass nur 15 Prozent der Einkommensmillionäre überhaupt überprüft werden, und das, obwohl jede Überprüfung für den Staat Mehreinnahmen in Höhe von mehr als 100 000 Euro bringt. So großzügig und nachsichtig sind wir, wenn es um die wirklich Reichen in diesem Land geht.

(Beifall bei der LINKEN)

Können Sie den Leuten angesichts solcher Meldungen eigentlich noch in die Augen schauen, wenn Sie behaupten, dass eine Erhöhung des Regelsatzes beim Arbeitslosengeld II nicht finanzierbar ist?
Wenn wir als Linksfraktion mehr Geld für die Armen fordern, dann sagen Sie immer, das sei nicht finanzierbar. Gleichzeitig arbeiten Sie jedoch an einer Unternehmensteuerreform, die unseren Staat in Zukunft jedes Jahr 10 Milliarden Euro kosten wird.

(Klaus Brandner (SPD): Das stimmt nicht! Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Können Sie mir bitte einmal vorrechnen, wie Sie auf diese Zahl kommen?)

Was heißt das? Das bedeutet, dass wir uns in Zukunft jedes Jahr Geschenke an die Unternehmen in einer Größenordnung von 10 Milliarden Euro leisten. An dieser Stelle haben Sie allerdings noch nie die Frage gestellt: Wie soll man die Unternehmensteuerreform finanzieren? Ich schlage Ihnen vor: Verzichten wir auf die Unternehmensteuerreform, sie führt sowieso nicht zu mehr Arbeitsplätzen und finanzieren wir mit dem dadurch frei werdenden Geld die Aufstockung der Regelsätze beim Arbeitslosengeld II.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielleicht werden einige von Ihnen gegen unsere Forderung einwenden, man könne die Regelsätze nicht anheben, weil sich die Leute dann in der Arbeitslosigkeit einrichten.

(Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): So ist das!)

Ich allerdings denke: Solange wir als Bundespolitiker nicht in der Lage sind, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass jeder, der verzweifelt einen Arbeitsplatz sucht, einen Arbeitsplatz bekommt, dürfen wir nicht mit dem Finger auf Leute zeigen, die vielleicht resigniert haben, weil sie sich schon oft erfolglos beworben haben.

(Beifall bei der LINKEN Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Dann müssen Sie die Welt verändern!)

Da ich aber glaube, dass Sie tatsächlich der Überzeugung sind, die Leute würden es genießen, den ganzen Tag Feierabend zu haben, möchte ich Sie mit der Aussage einer jungen Erwerbslosen konfrontieren. Sie sagte: Das glaubt uns Arbeitslosen zwar niemand, aber keinen Job zu haben, ist verdammt anstrengend. Man will raus aus dieser Situation, kann es aber nicht. Man spürt, was die anderen über einen denken, und das tut weh. Wer einen Job hat, hat wenigstens irgendwann Feierabend. Wer aber verzweifelt einen Job sucht, der wird diesen Druck nie los. In dieser Situation hat man faktisch niemals Feierabend.

(Gitta Connemann (CDU/CSU): Da sprach Mutter Courage!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass Sie Anträgen der Linksfraktion eher selten zustimmen. Aber ich finde, in diesem Fall sollten Sie einmal über Ihren Schatten springen. Wenn Sie dem Änderungsantrag meiner Fraktion, mehr Geld für das Arbeitslosengeld II in den Haushalt einzustellen, heute zustimmen, dann machen Sie das nicht, weil Sie uns einen Gefallen tun wollen. Wenn wir heute die Voraussetzungen für eine Anhebung der Regelsätze beim Arbeitslosengeld II schaffen, dann tun wir das nur, um die Arbeitslosigkeit und Armut für Menschen wie Anja F. und Kati K. etwas erträglicher zu machen. Es geht nicht um Luxus. Es geht nur darum, die Situation für die Betroffenen etwas erträglicher zu gestalten. Dazu sollten wir alle gemeinsam Ja sagen.
Besten Dank.

(Beifall bei der LINKEN Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Das war wieder einmal Populismus pur!)