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Mehr Demokratie wagen - willkommen im Klub

Rede von Petra Pau,

 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes um Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid und Referendum

 

Petra Pau (DIE LINKE):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren über zwei Gesetzentwürfe der SPD-Fraktion: Der erste will das Grundgesetz ändern, der zweite schlägt Verfahren vor. Beide zusammen sollen zu mehr direkter Demokratie führen, zu Volksbegehren und Volksentscheiden auch auf Bundesebene. Mit diesen Anträgen nach dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ schleicht sich die SPD durch offene linke Tore. Ich erinnere mich an einen entsprechenden Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke vom März 2010, also vor drei Jahren. Insofern kann ich nur sagen, Kollege Oppermann: Willkommen im Club!

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Arfst Wagner (Schleswig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Andere würden vielleicht meinen ‑ das klang hier schon an ‑: „Spät kommt Ihr - doch Ihr kommt!“ Das trifft es leider nicht. Richtig müsste es heißen: „Spät kommt ihr - doch zu spät.“ Denn alle wissen: Bis zur Neuwahl des Bundestages verbleiben nur noch wenige Wochen. In dieser knappen Zeit ist dieser Wunsch in einem normalen parlamentarischen Verfahren nicht mehr ins Werk zu setzen. Deshalb orakeln Böswillige, es gehe der SPD gar nicht um mehr Demokratie auf Bundesebene, sondern um puren Wahlkampf. Andere meinen, die SPD spekuliere darauf, dass die Unionsfraktion ‑ der Kollege Brandt zeigte sich eben wieder verlässlich ‑ dies natürlich wie seit Jahrzehnten blockieren wird.

Um es deutlich zu sagen: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPD, die älteste Partei in Deutschland, mit solchen Tricks arbeitet, zumal es um eine gute Sache geht.

(Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Die SPD ist tief gesunken!)

Aber, liebe Kollegen von der Union, wenn es doch so sein sollte, gibt es einen Ausweg. Deshalb richte ich mich an Sie: Ich würde mir an Ihrer Stelle ‑ ich weiß, „an Ihrer Stelle“ ist für uns beide nur schwer vorstellbar ‑ einen Ruck geben und mich nicht vorführen lassen. Lassen Sie doch die SPD mit ihrem Kalkül einfach ins Leere laufen und stimmen Sie zu.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie des Abg. Arfst Wagner (Schleswig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Damit schlagen Sie zwei Fliegen mit einer Klappe: Erstens machen Sie den Wahlkampfstrategen der SPD einen Strich durch die Rechnung. Zweitens können wir dann die SPD beim Wort nehmen.

(Christine Lambrecht (SPD): Genau! - Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): Wenn wir regieren! Genau!)

Nun aber zurück zum inhaltlichen Anliegen: mehr direkte Demokratie. Im Land Berlin wurde das gerade erfolgreich praktiziert: Mehr als eine Viertelmillion Bürgerinnen und Bürger Berlins haben gefordert, dass die Energienetze wieder in kommunale Hand kommen und ein Stadtwerk Berlin künftig mit ökologischer Energie versorgt. Ich bin stolz, dass die Linke wesentlich dazu beigetragen hat.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Arfst Wagner (Schleswig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Auf Bundesebene sind Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksabstimmungen aber noch immer ausgeschlossen, das heißt, die Bundesrepublik ist in Fragen direkter Demokratie tatsächlich noch ein EU-Entwicklungsland. Ich finde, das muss sich ändern.

(Beifall bei der LINKEN)

In den letzten 25 Jahren gab es mehrere Initiativen für mehr direkte Demokratie. Sie wurden stets ausgebremst, und das nicht nur ‑ das muss ich der Gerechtigkeit halber sagen ‑ durch die Unionsfraktionen.

Die Bürgerrechtler der DDR hatten 1990 am runden Tisch einen Verfassungsentwurf erarbeitet. Direkte Demokratie war darin selbstverständlich vorgesehen. Er sollte eine Mitgift der DDR für das vereinte Deutschland sein. Dazu kam es nicht.

1991/1992 gab es im vereinten Deutschland einen Paulskirchen-Konvent für eine neue Verfassung. Auch dieser Entwurf enthielt Formen direkter Demokratie, aber auch dieses Angebot wurde ausgeschlagen, dieses Mal vom Bundestag.

2004 gab es einen erneuten Versuch, eine Volksabstimmung zu erwirken. Es ging um den Verfassungsentwurf für die Europäische Union. Der damalige Außenminister Joseph Fischer lehnte das ab. Er lasse sich seine EU-Verfassung nicht vom Volk zerschmettern, sagte er.

(Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Hört! Hört!)

Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder behauptete sogar, das Grundgesetz verbiete Volksabstimmungen.

(Jimmy Schulz (FDP): Das hat er gesagt?)

Wir alle wissen, dass das nicht stimmt.

Das alles ist Geschichte. Aber die letzte Geschichte zur EU-Verfassung hält noch eine besondere Erzählung parat, die vielleicht auch Sie, Kollege Brandt, überzeugen könnte.

Der uns allen bekannte, bundesweit agile Verein „Mehr Demokratie e. V.“ arrangierte damals mit einer Kleinstadt in der Eifel eine Volksabstimmung über den EU-Verfassungsvertrag. Die Bürgerinnen und Bürger stimmten ab, natürlich unverbindlich. Dafür machten sie sich schlau, schlauer als anderswo. Politikerinnen und Politiker warben für ihre Position, intensiver als anderswo. Die Beteiligung an dieser Abstimmung war sehr hoch, die Bürgerinnen und Bürger fühlten sich einbezogen, sie waren gefragt und sie entschieden sich souverän. Übrigens votierten die Bürgerinnen und Bürger damals ‑ sehr zum Leidwesen meiner Partei ‑ mehrheitlich für die EU-Verfassung.

(Helmut Brandt (CDU/CSU): Die in der Eifel sind clever!)

Dieses Beispiel zeigt, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern mehr zutrauen können, als Sie das gerade dargestellt haben.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Hans-Peter Bartels (SPD))

Zum Schluss eine grundsätzliche Bemerkung. Art. 20 Grundgesetz besagt:

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt.

Die Bürgerinnen und Bürger sind der Souverän, niemand sonst. Das bleiben sie auch, wenn sie eigene Entscheidungen durch Wahlen an die Volksvertreter delegieren. Wir Abgeordnete vertreten sie, aber wir ersetzen sie nicht als Souverän. Deshalb müssen die Bürgerinnen und Bürger jederzeit die Möglichkeit haben, diese delegierten Entscheidungen zurückzuholen oder auch selbst zu treffen. Das ist der urdemokratische Sinn von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksabstimmungen. Deshalb unterstützen wir die Initiative der SPD.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)