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Leiharbeit gemeinsam überwinden

Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Debatte über den Antrag »Missbrauch der Leiharbeit verhindern«

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit einem SPD-Antrag. Frau Nahles, aufgrund der Umstände, in denen Sie sich befinden   es ist ja etwas Tolles, dass Sie neues Leben auf die Erde bringen  , will ich mich mit meiner Kritik etwas zurückhalten.

(Andrea Nahles (SPD): Keine Schonung!)

Aber dass Sie mit keinem Wort darauf eingegangen sind, dass SPD und Grüne sehr stolz darauf waren, den Arbeitsmarkt 2003 mit der Agenda 2010 zu flexibilisieren, damit aber den ganzen Mist angerichtet haben, kann dann doch nicht außen vor bleiben. Wenigstens mit einem Satz hätten Sie es erwähnen sollen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Pascal Kober (FDP))

Das bedeutete damals in großem Umfang Leiharbeit, befristete Beschäftigung, Teilzeitarbeit, Aufstocker usw. All das führte zu einer dramatischen Lohnsenkung in Deutschland. Deutschland ist Weltmeister bei der Lohnsenkung. Von den USA bis Norwegen gab es in den letzten zehn Jahren Lohnsteigerungen von   inflationsbereinigt   2,2 bis 25,1 Prozent. In Deutschland hatten wir in den letzten zehn Jahren eine Lohnsenkung um 4,5 Prozent. Das ist die Wahrheit. Das gilt für Ihre gesamte Regierungszeit und natürlich auch für Ihre Regierungszeit, meine Damen und Herren von der Koalition. Deshalb kann sich hier keine Fraktion außer unserer aus der Verantwortung stehlen.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese Zahlenfeststellung kommt nicht von uns, sondern von der Internationalen Arbeitsorganisation, der ILO, die bei der UNO angesiedelt ist.
Zusätzlich haben SPD und Grüne das Rentenniveau gesenkt, indem sie die Kohl‘sche Rentenformel wieder eingeführt haben. Dadurch ist das Rentenniveau deutlich gesunken. Dann ist die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld gekürzt worden. Außerdem haben Sie über die Einführung von Hartz IV die Sozialleistungen reduziert. Wir haben immer gesagt: Hartz IV muss weg, weil das kein Weg ist, unsere Probleme zu lösen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Ergebnis war, dass deutsche Produkte immer billiger wurden. Weil deutsche Produkte immer billiger wurden, haben wir einen immer größeren Exportüberschuss erzielt, haben immer mehr in Länder wie Frankreich, Portugal, Spanien etc. exportiert.

(Max Straubinger (CDU/CSU): Das hat aber nichts mit den Löhnen zu tun!)

Diese Länder konnten immer weniger zu uns exportieren. Dadurch ist ein makroökonomisches Ungleichgewicht entstanden, mit dem wir uns heute herumzuschlagen haben.

(Max Straubinger (CDU/CSU): Das hat aber nichts mit Löhnen zu tun!)

- Ich wusste, dass Sie denken, das habe mit dem Thema nichts zu tun. Wenn Sie mich einladen, werde ich Ihnen einmal erklären, warum das eine Menge mit dem Thema zu tun hat, aber jetzt habe ich leider nicht die Zeit dafür.

(Beifall bei der LINKEN)

Nur so viel noch: Der Binnenmarkt in Deutschland ist über die Lohnsenkung, die Rentensenkung und die Senkung der Sozialleistungen erheblich geschwächt worden. Das ist völlig klar. Das ist das Ergebnis.

Jetzt verlangen Sie von Griechenland, von Spanien, von Portugal, auch von Frankreich drastische Lohnsenkungen und Sozialkürzungen, und diese Länder gehen den Weg auch. Wenn Sie das aber durchsetzen, liebe Union und liebe FDP   dafür setzen sich Frau Merkel und die ganze Bundesregierung ein  , dann nehmen Sie uns die Möglichkeit, dorthin so zu exportieren wie bisher; dann geht unser Export zurück. Somit gibt es nur eine einzige Ausgleichsmöglichkeit: Wir müssen den Binnenmarkt stärken.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb sage ich Ihnen: 2011 muss das Jahr von massiven Lohn- und Rentensteigerungen sowie von Erhöhungen der Sozialleistungen werden. Wer das verhindert, arbeitet nicht für, sondern gegen Europa, arbeitet gegen den Euro, ist nicht nur unsozial, sondern schwächt auch unsere eigene Wirtschaft, und zwar beachtlich. Die Linke kämpft jetzt um Europa, während Sie Europa gefährden. Das ist die Wahrheit, mit der wir es heute zu tun haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Auf einen Umstand wurde schon hingewiesen. Gerade dank der Linken im Senat von Berlin hat es eine Klage gegeben, die bis zum Bundesarbeitsgericht gegangen ist. Dort ist jetzt entschieden worden, dass die christlichen Gewerkschaften, die nichts anderes sind als Krücken der Arbeitgeber, keine Tarifverträge schließen dürfen.

(Beifall bei der LINKEN - Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Natürlich!)

- Das hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt. Wenn Sie es mir nicht glauben, dann lesen Sie sich das Urteil durch.

Im Ergebnis sind alle diese Tarifverträge nichtig. Nun muss es natürlich beachtliche Nachzahlungen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie an die Sozialkassen geben. Ich bin gespannt, ob Union und FDP diese Nachzahlungsforderungen unterstützen oder nicht. Ich warte auf eine Äußerung von Ihnen.

Kommen wir aber zurück zur Leiharbeit. Sie ist 1972 unter Willy Brandt erfunden worden, aber damals mit klaren Regelungen und als eindeutige Ausnahme. Dann war es leider so, dass mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes durch Rot-Grün 2003 Folgendes passiert ist: Erklärt wurde, man wolle die Leiharbeit aus der Schmuddelecke herausholen. Dabei hat man sie allerdings so schmutzig gemacht, dass sie heute an Sklaverei erinnert, kann ich nur sagen.
Erstens haben Sie die Entfristung der Leiharbeit geregelt. Das heißt, Unternehmen können Leiharbeitskräfte dauerhaft einsetzen. Das war die erste ganz erhebliche Benachteiligung.
Zweitens haben SPD und Grüne die Aufhebung des sogenannten Synchronisationsverbotes beschlossen. Vorher durften Leiharbeitsfirmen Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter nicht nur dann beschäftigen, wenn sie für sie einen Job hatten. Nun besteht für Leiharbeitsfirmen nicht mehr die Pflicht, die Leute dauerhaft zu beschäftigen. Das heißt, eine Leiharbeitsfirma kann eine Leiharbeiterin einstellen und sagen: Immer wenn ich für dich einen Job habe, bist du beschäftigt, wenn nicht, bist du arbeitslos und bekommst von mir gar nichts.   Das war vorher verboten. Sie haben dieses Verbot aufgehoben, und seitdem haben wir mit der nicht dauerhaften Beschäftigung zu tun.

Das Dritte war die Öffnungsklausel. Sie haben geregelt, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter nicht nach der von ihnen geleisteten Tätigkeit bezahlt werden müssen, sondern nach irgendeinem Tarif der Leiharbeitsfirma. Aber viele Leiharbeitsfirmen haben nicht einmal einen Tarif. Das führt dazu, dass   was Frau Nahles zu Recht kritisiert hat   Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter oft nur 50 bis 70 Prozent des Lohnes bekommen, den ein anderer im Unternehmen, der die gleiche Arbeit erledigt, erhält.

(Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Das geht aber nur mit Tarif!)

Das ist doch ein einzigartiger Skandal!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Jeder bzw. jede achte Beschäftigte in Leiharbeit ist Aufstockerin oder Aufstocker und muss zum Sozialamt rennen. Das ist damals eingeführt worden, und das finden Sie gut. Dazu hätte man seitens SPD und Grünen selbstkritisch etwas sagen müssen, finde ich.
Viertens haben Sie keine Drehtürregelung eingeführt. Das führte dazu, dass Schlecker Folgendes machte: Schlecker entließ seine Beschäftigten und stellte sie als Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter gleich wieder ein. Nun sagen auch Union und FDP, das gehe ihnen zu weit. Auch Sie haben erkannt, dass es keine Drehtürregelung gibt, weshalb Schlecker seine Mitarbeiter entlassen und als Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter wieder einstellen kann. Aber was machen Sie? Ich habe mir Ihren Gesetzentwurf angesehen. Sie schlagen vor, die Wiedereinstellung für sechs Monate zu verbieten. Mit anderen Worten: Sie sagen, dass Schlecker die Leute erst nach sechs Monaten wieder einstellen darf. Das ist keine Lösung des Problems.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben von einer dauerhaften Lösung gesprochen. Dann regeln Sie das! Streichen Sie die Sechsmonatsfrist, und verbieten Sie die Wiedereinstellung zur Leiharbeit dauerhaft. Sonst ist das kein wirklicher Fortschritt.

Aber die Situation wird immer dramatischer. Im dritten Quartal 2010 entstanden nur 50 000 neue reguläre Arbeitsplätze, aber 150 000 Leiharbeitsplätze. Da sehen Sie, was die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes angerichtet hat: eine soziale Katastrophe.

Bei der Zahl der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter nähern wir uns jetzt der Millionengrenze. Nun hat der DGB einen neuen Tarifvertrag mit der Leiharbeitsbranche   mit denen, die da mitmachen; viele machen ja nicht mit   geschlossen, in dem ein Mindesttarif West von 7,79 Euro und ein Mindesttarif Ost von 6,89 Euro festgeschrieben ist. Ich sage Ihnen ganz klar: Es ist ein Skandal, dass 20 Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit ein geringerer Mindesttarif Ost als West vereinbart wird. Das sage ich ganz deutlich, auch den Gewerkschaften.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun haben die Gewerkschaften allerdings auch etwas Positives erreicht. Sie haben nämlich in manchen Konzernbereichen durchgesetzt, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit auch für Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter zu bezahlen ist. Aber das geschieht nur in Ausnahmefällen. In der Regel ist das nicht der Fall.

Nun erleben wir einen Streit zwischen Union und FDP; das finde ich ganz interessant. Die Union schlägt vor, im Entsendegesetz einen Mindesttarif zu regeln, und zwar den von mir gerade angesprochenen. Das löst das Problem aber überhaupt nicht; denn das bedeutet nicht, dass der Ingenieur, der als Leiharbeiter in einem Unternehmen tätig ist, den gleichen Lohn bekommt wie ein anderer Ingenieur, der dort die gleiche Arbeit macht. Sie wollen ja nur einen Mindesttarif für die Leiharbeitsfirmen. Deshalb ist das keine wirkliche Lösung.

Die FDP   auch in meinem Alter muss ich sagen: man höre und staune   schlägt ernsthaft vor, dass für den Leiharbeiter der gleiche Lohn bezahlt wird wie für den festen Mitarbeiter in dem Unternehmen.

(Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, aber erst nach einer Frist!)

Ich war völlig von den Socken.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Aha, Herr Gysi!)

  Moment!   Dann sagen Sie, dass das erst nach einer bestimmten Frist der Fall sein soll, und die nennen Sie noch nicht. Sie wissen natürlich, dass über die Hälfte der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter weniger als drei Monate tätig ist. Deshalb ahne ich, dass Sie irgendwie auf drei oder vier Monate kommen. Sagen Sie doch einfach: unbefristet. Das wäre ein guter Vorschlag.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Solange es Leiharbeit gibt, fordern wir sieben Dinge:

Erstens. Gleicher Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit ohne Ausnahme vom ersten Arbeitstag an.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Zusätzlich soll an Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter wie in Frankreich eine Flexibilitätsprämie von 10 Prozent gezahlt werden. Denn sie sind jeweils nur befristet tätig und haben dann wieder stärkere Lohneinbußen. Weil die Leiharbeiterin oder der Leiharbeiter für ein Unternehmen teurer ist, kann man damit auch durchsetzen, dass die Unternehmen sie nur in Ausnahmesituationen beschäftigen, statt sie dafür zu nutzen, die Stammbelegschaft im Lohn zu drücken, was wir gegenwärtig erleben.

(Beifall bei der LINKEN)

Drittens wollen wir, dass die Leiharbeit auf drei Monate befristet wird. Wenn eine Firma eine Leiharbeiterin oder einen Leiharbeiter länger beschäftigt, dann muss er oder sie unbefristet eingestellt werden.

Viertens wollen wir eine Wiedereinführung des Synchronisationsverbotes. Damit wird verhindert, dass Leiharbeitskräfte nur für die Dauer eines Einsatzes bei der Leiharbeitsfirma beschäftigt werden können. Wenn es schon eine Leiharbeitsfirma gibt, dann muss sie die Beschäftigten unbefristet einstellen.

Fünftens wollen wir, dass die Betriebs- und Personalräte im Entleihbetrieb über ein zwingendes Mitbestimmungsrecht bei der Einsetzung von Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern verfügen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sechstens wollen wir - das ist ein kleines, aber sehr wichtiges Detail -, dass die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, die in einem Unternehmen tätig sind, ein aktives Wahlrecht für dessen Betriebsrat erhalten. Sie müssen auch als Beschäftigte mitgezählt werden. Denn die Größe des Betriebsrates hängt von der Zahl der Beschäftigten ab. Wenn ein Unternehmen dazu übergeht, 10 Prozent seiner Beschäftigten mit Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern zu bestreiten, dann ist auch der Betriebsrat entsprechend kleiner. Das muss aufhören. Auch Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter müssen mitzählen.

(Beifall bei der LINKEN)

Siebtens wollen wir zum 1. Mai einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland, der bis spätestens 2013 bei 10 Euro pro Stunde liegen muss.
(Zuruf von der FDP: Warum nicht 12 Euro?)

Ich sage Ihnen auch, warum: weil die Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf uns zukommt.

Hören Sie als Liberale zu! Wenn Sie dafür sorgen, dass Unternehmen aus anderen Ländern hier zu sündhaften Billiglöhnen tätig werden, nehmen Sie den Menschen bei uns auf eine unmoralische Art und Weise die Arbeitsplätze und schaffen die Voraussetzung für Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Wer das nicht will, muss eine andere Lösung anstreben. Es wird höchste Zeit. Dabei sind wir alle gemeinsam in der Verantwortung.

(Beifall bei der LINKEN)

Damit komme ich zur SPD. Alle Forderungen, die Sie heute vorbringen, sind völlig berechtigt, wobei ich mir gewünscht hätte, dass Sie die unbefristete Einstellung nicht erst nach einem Jahr, sondern schon nach drei Monaten und den gleichen Lohn nicht erst nach einem Monat, sondern gleich fordern.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Gysi, Sie haben Ihre Redezeit weit überzogen.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Das ist sehr tragisch, aber es war notwendig.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie – die SPD - hätten allerdings zugeben müssen, dass Sie das Ganze beschlossen haben. Wir bräuchten Ihren Antrag gar nicht, wenn Sie es nicht seinerzeit eingeführt hätten. Aber immerhin: Ich darf es bedauern, aber lassen Sie uns jetzt versuchen, es gemeinsam zu überwinden.
Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)