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Katja Kipping: Es ist Zeit für einen Umgangsmehrbedarf

Rede von Katja Kipping,

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Linke wollen, dass alle Kinder einen guten Start ins Leben haben. Wir wollen Kinderarmut abschaffen, damit alle Kinder frei von Armut groß werden können.

(Beifall bei der LINKEN)

Heute stellen wir eine Maßnahme zur Abstimmung, die die Situation von Kindern verbessert, deren Eltern getrennt leben und beide auf Hartz‑IV-Leistungen angewiesen sind. Es geht um den Umgangsmehrbedarf.

Die aktuelle Hartz‑IV-Praxis sieht Folgendes vor: Kinder, deren Eltern auf Hartz‑IV-Leistungen angewiesen sind, bekommen den Kinderregelsatz. Wenn beide Elternteile getrennt leben, muss der aufgeteilt werden. – Wie soll das in der Praxis ablaufen? Versetzen Sie sich doch einmal in die Situation von Leuten, die sowieso jeden Euro umdrehen müssen und deren emotionale Situation womöglich angespannt ist, und die sollen dann auch noch den geringen Regelsatz aufteilen.

Neunmalkluge Bürokraten haben vorgeschlagen, dass die Eltern genau dokumentieren sollen, bei wem das Kind welche Mahlzeit einnimmt. Das ist doch total wirklichkeitsfremd.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Klein-Lotta abends beim Vater eine Käsestulle isst, aber nach der Busfahrt zu Hause bei der Mutter sagt: „Du, ich habe schon wieder Hunger“, dann sagt doch keine Mutter: Tut mir leid, der Anteil für das Abendbrot ist schon von deinem Vater verbraucht worden. – Die Bedürfnisse von Kindern, auch der Appetit von Kindern, richten sich nicht nach den kleinkarierten Berechnungen von Bürokraten. Es ist also höchste Zeit für einen Umgangsmehrbedarf.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn die Eltern getrennt leben und die Kinder zu beiden Elternteilen Kontakt haben, fallen Mehrkosten an. Erstens fallen höhere Fahrt- und Kommunikationskosten an. Zweitens gibt es fixe Kosten wie Versicherungs- und Vereinsbeiträge; außerdem sind Ansparungen für Haushaltsgeräte vorzunehmen. All diese Kosten fallen nicht weg, nur weil das Kind gerade beim Vater bzw. bei der Mutter ist. Drittens: Wer den Alltag mit Kindern direkt erlebt, weiß, dass man bei ihnen auf alle Eventualitäten und auch Witterungsbedingungen eingestellt sein muss. Bei Regen braucht man Gummistiefel, weil Kinder gerne in Pfützen springen. Zwei Paar Gummistiefel sind im einfachen Kinderregelsatz nicht drin. Das heißt, man muss jedes Mal, wenn das Kind zum Papa fährt, die Gummi­stiefel einpacken. Dabei bleibt es aber nicht. Man braucht eine Matschhose, einen Regenmantel, eine Badehose, einen Bademantel und Badelatschen. Außerdem benötigt man eine Wärmflasche, wenn das Kind Bauchschmerzen hat. Auch braucht das Kind Turnschuhe, wenn es in der Freizeit kicken will. Es braucht Sportsachen und so weiter und so fort. Der Rucksack, den man dem Kind jedes Mal mitgibt, muss wirklich groß sein. Kinder, deren Eltern getrennt leben und arm sind, haben schon ein großes Päckchen durch das Leben zu tragen. Wie groß soll denn, bitte schön, der Rucksack sein, den sie den Kindern jedes Mal aufladen müssen, wenn diese zum anderen Elternteil fahren?

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kurzum: Beim Umgangsmehrbedarf handelt es sich meiner Meinung nach um eine Selbstverständlichkeit. Ich habe mich wirklich gefragt, warum Sie von der Union den so verbissen blockieren. Erst habe ich gedacht: Okay, die sind so knauserig, weil sie an der schwarzen Null hängen. – Dann aber tagte die NATO, und man beschloss, dass mehr Geld für Rüstung ausgegeben werden muss: 25 Milliarden Euro. Sogar Herr Schäuble sagte großzügig, da sei schon was drin, das sei möglich. Es sind 25 Milliarden Euro im Jahr für Panzer drin, aber rund 100 Euro im Monat für Kinder nicht. Das können Sie mir doch nicht weismachen!

Als ich das Protokoll über die erste Diskussion hier im Bundestag zu diesem Thema gelesen habe, fielen mir die aggressiven Zwischenrufe aus Ihren Reihen bei der Rede meiner Fraktionskollegin Hupach auf.

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das kann ja auch etwas mit der Rede zu tun haben! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir sind nie aggressiv!)

Aus den Reihen der CDU hieß es da – jetzt zitiere ich –:

"Das Versagen der Eltern ist für Sie eine Entschuldigung, dass wir mehr Geld ausgeben!"

Sie, die CDU-Männer, sprachen vom Versagen der Eltern. Ich habe mir das nicht ausgedacht. Das kann man im Plenarprotokoll vom 2. Dezember 2016 nachlesen.

Wie kann man denn bei getrennt lebenden Eltern, bei Alleinerziehenden überhaupt an das Wort „Versagen“ denken? Wer selbst erlebt hat, wie schwer es ist, einen sicheren Kitaplatz zu bekommen, wer weiß, dass Kinderkrankheiten alle beruflichen Planungen über Nacht über den Haufen werfen können, wer erlebt hat, dass Kinder just in der Nacht nicht durchschlafen können, wo die Eltern den Schlaf selber besonders nötig hätten, wer die großartige und zugleich tiefe Erschöpfung nach einem gelungenen Kindergeburtstag kennt, der kann doch nicht ernsthaft die Wörter „Alleinerziehende“ und „Versagen“ in einem Satz erwähnen. Ich habe all diese wunderschönen und manchmal auch sehr anstrengenden Momente aus dem Leben mit einem Kind sehr intensiv kennengelernt.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Meinen Sie, wir nicht?)

Und ich kann nur sagen: Hut ab vor allen Ein-Eltern-Familien! Hut ab vor allen Alleinerziehenden! Ihr leistet Großartiges!

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Einzige, die hier versagt, ist die Regierungskoalition. Die Einzigen, die hier versagen, sind die Union und leider auch die SPD, weil sie es nicht schaffen, die Lage von Kindern, deren Eltern in Hartz IV sind und getrennt leben, deutlich zu verbessern.

Wenn ich mir Ihre Zwischenrufe so anschaue, dann denke ich manchmal: Kann es sein, dass Sie tief in Ihrem Herzen Menschen, die in einer solchen Notsituation sind, einfach verachten?

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt erzählen Sie doch keinen Unsinn!)

– Wenn Sie sich so aufregen, sage ich Ihnen: Sie von der CDU können heute das Gegenteil beweisen und klarmachen, dass Ihnen die Situation von Alleinerziehenden bzw. getrennt lebenden Eltern nicht egal ist, indem Sie unserem Antrag einfach zustimmen. Das wäre eine praktische Maßnahme, um die Situation von Kindern, deren Eltern arm sind, zu verbessern.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Unmöglich! Arbeiten Sie an Ihrer Wortwahl!)

– Arbeiten Sie an Ihren Beschlüssen und am Abstimmungsverhalten.

(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Mensch, wie hat das denn bei euch im Sozialismus ausgesehen?)