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Ist die Kulturförderung nach dem §96 Bundesvertriebenengesetz noch zeitgemäß?

Rede von Lukrezia Jochimsen,

Top 15 – Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 des Bundesvertriebenengesetzes in den Jahren 2009 und 2010. Drucksach 17/9401
Im Eingangstext des Berichtes der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes für 2009 und 2010 heißt es:

„Jede Generation entwickelt ihre eigenen Sichtweisen auf die Geschichte und stellt deshalb jeweils neue Fragen an die Vergangenheit.“ Wohl wahr. Aber wird diesem Grundsatz auch die gegenwärtige Kulturarbeit Deutschlands im östlichen Europa gerecht? Mir scheint, das ist nicht der Fall – trotz vieler Beschwörungen des „Miteinander verschiedener Kulturen“, der „verbindenden Funktion“ eines gemeinsamen kulturellen Erbes und seinen Möglichkeiten als „Brücke“ zwischen den Völkern zu dienen. Diesen schönklingenden Beschwörungen zum Trotz beschreibt der Bericht eine Kulturförderung immer noch im Geist der deutschen Vertriebenen-Organisationen.
So heißt es im Kapitel 2: „Zur Struktur der Bundesförderung“: „Gemäß § 96 BVFG haben Bund und Länder das Kulturgut der historischen deutschen Ost- und Siedlungsgebiete

1. - im Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge

2. - des gesamten deutschen Volkes und

3. - des Auslandes zu erhalten.“

Welche Rangfolge wird hier nach wie vor festgeschrieben? Müsste es nicht ganz und gar umgekehrt heißen:

- Im Bewusstsein des gesamten deutschen Volkes
- des Auslandes
- und der Vertriebenen und Flüchtlinge???

Gerade wenn man die europäische Dimension dieser Kulturförderung in den Mittelpunkt stellen will und die kulturelle Vielfalt.
Mit Verlaub: Es geht um eine Aufgabe des Bundes und der Länder- also, des gesamten deutschen Volkes, ausgerichtet auf das östliche Europa, - also das Ausland.
Diese beiden übergreifenden Kriterien müssen heutzutage Grundlage der Förderung der Kulturarbeit sein – und nicht an erster Stelle und damit vorrangig das „Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge.“
Aber sowohl strukturell, als auch praktisch, geht es um Förderung der Vertriebenen Verbände und ihre Sicht auf Geschichte und Kultur. Da heißt es im Bericht über die seit 2009 festangestellten Kulturreferentinnen und Kulturreferenten, die in den Museen Ulm, Lüneburg, Gundelsheim, Münster, Greifswald und Görlitz arbeiten:

„Mit einem eigenen Förderetat unterstützen sie geeignete Projekte Dritter insbesondere aus dem Vertriebenenbereich.“ Und hier ist nicht von ein paar Tausend Euro die Rede: 2009 und 2010 stellte der Bund für die Arbeit der Kulturreferenten 847 000 bzw. 824 000 Euro zur Verfügung. Dem Bericht ist zu entnehmen, dass die Kulturreferenten mit rund 447 00 Euro zusätzlich zu eigenen Vorhaben insgesamt 196 externe Projekte förderten. Davon entfielen 144 Projektzuwendungen auf die Landsmannschaften und andere Organisationen der deutschen Heimatvertriebenen.

So geht das praktisch mit den Vertriebenenprojekten immer weiter.
Weswegen ja ein ganzes Kapitel des Berichts überschrieben ist:

„Erinnerung an Flucht und Vertreibung wachhalten“.

Und da ist nach wie vor kein Wort über die millionenfache Vertreibung der Juden, Osteuropäer und Sinti und Roma, sondern es geht vorrangig um die Deutschen.
Wobei wir auf die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ hingewiesen werden, als „zukunftsweisenden Beitrag“ dafür, dass Vertreibungen als Mittel der Politik nachhaltig geächtet werden.“
Dafür wollen wir uns ganz und gar einsetzen – in der Tat! Allerdings muss, wer dies wirklich will, als erstes den Krieg ächten – denn er war und ist der Auslöser des Vertreibungselends, überall auf der Welt.
Über die Arbeit der Stiftung erfahren wir wenig in diesem Bericht – außer, dass sie sich auf einem guten Weg befindet. Dabei ist noch immer alles beim Alten: Arnold Tölg und Hartmut Saenger sind nach wie vor für den Bund der Vertriebenen als Stellv. Mitglieder im Stiftungsrat. Der Zentralrat der Juden lässt deswegen bis heute seine Mitgliedschaft im Stiftungsrat ruhen. Im Beirat ist immer noch kein Mitglied der Sinti und Roma vertreten. Von all dem und den öffentlichen Auseinandersetzungen hierüber findet sich kein Wort im Bericht.
Wie wäre es endlich mit der Gründung und Finanzierung von multinationalen Stiftungen zur Förderung von Kultur und Wissenschaft in multiethnischen Regionen Europas. Wir haben dies schon 2007 in unserem Sondervotum zum Enquete-Bericht „Kultur in Deutschland“ gefordert.
Mit 16 Millionen Euro Förderung nach § 96 BVFG ließe sich bestimmt viel ermöglichen – kulturelle Förderung des gegenwärtigen Miteinander in Verantwortung vor der Geschichte. Vielleicht finden wir einen solchen Posten unter den Aktiva des nächsten Regierungsberichtes.
Grundsätzlich ist zu fragen, ob eine Kulturförderung nach dem § 96 des Bundesvertriebenengesetzes noch zeitgemäß ist. Zum Zeitpunkt des Entstehens des Bundesvertriebenengesetzes im Jahr 1953 ging es um die Integration von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Heute aber geht es darum, das kulturelle Erbe der deutschsprachigen Flüchtlinge und Vertriebenen als Teil der europäischen kulturellen Vielfalt auch für spätere Generationen zu bewahren. Hier ist es an der Zeit für einen Perspektivenwechsel. Es ist an der Zeit die bisher gesondert geförderten Einrichtungen nach und nach in vorhandene Institutionen und damit in die „normale“ Kulturförderung zu integrieren.