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Inge Höger: Organisierte Unmbarmherzigkeit statt Menschenrechte?

Rede von Inge Höger,

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland kurz vor Weihnachten: In einem Charterflugzeug werden 34 Menschen, die hier Schutz gesucht haben, zurück in den Krieg geschickt. Tausende weiterer Af­ghaninnen und Afghanen sollen folgen. Sie werden abgeschoben, mitten in den kalten Winter am Hindukusch, mitten in die Perspektivlosigkeit. Es gibt in Afghanistan keinen Ort, der wirklich Schutz bieten kann. Es gibt dort keinen sicheren Ort. Mit dieser organisierten Unbarmherzigkeit beugt sich die Regierung dem rechten Mob. Das können und das dürfen wir nie akzeptieren.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das sieht das Bundesverfassungsgericht anders!)

Wir reden heute über Menschenrechte. Menschenrechte sind keine Almosen oder Gnadenakte. Die Achtung der Menschenrechte ist ein Grundrecht, und die Genfer Flüchtlingskonvention beinhaltet klare Schutzrechte. Auch Deutschland hat die Flüchtlingskonvention ratifiziert. Doch die Rechte werden zunehmend missachtet. Das ist unerträglich.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sieht das Bundesverfassungsgericht anders!)

Der hier vorliegende EU-Menschenrechtsbericht beschäftigt sich mit vielen wichtigen Entwicklungen; er hat aber einen zentralen blinden Fleck. Der Schutz der Menschenrechte in der EU wird nicht problematisiert. Die Verantwortung der EU und ihrer Mitgliedstaaten für Menschenrechtsverletzungen spielt kaum eine Rolle. Transnationale Konzerne mit Sitz in der EU werden in dem Bericht nicht mit den Folgen ihres Handelns konfrontiert. Wenn wir Menschenrechten wirklich global Anerkennung verschaffen wollen, dann müssen wir hier mit der Durchsetzung beginnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich werde auf einige Defizite bei der Umsetzung von Menschenrechten in Deutschland und in der EU eingehen. Die Rechte von Flüchtlingskindern und Jugendlichen sind hier und in den anderen Ländern der Europäischen Union alles andere als sicher. Die UN-Kinderrechtskonvention garantiert die Rechte von Minderjährigen bis zum Alter von 18 Jahren. Dennoch werden inzwischen junge Menschen überfallartig aus Jugendhilfeeinrichtungen herausgerissen und in unsichere Situationen abgeschoben. Diese Praxis erschwert die Arbeit mit den häufig traumatisierten jungen Menschen zusätzlich. Stellen Sie sich einmal vor, Sie müssten ständig damit rechnen, plötzlich von Polizisten aus Ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen zu werden. Stellen Sie sich vor, Sie werden, ohne Abschied von Freunden nehmen zu können, in ein Land zurückgeschickt, in dem Ihnen Gefahr droht. Wie sollen angesichts dieser ständigen Angst ein Schulbesuch, die Verarbeitung der eigenen Traumata und der Aufbau von vertrauensvollen sozialen Beziehungen funktionieren? Obwohl die Kinderrechtskonvention vorsieht, dass bei allen staatlichen Maßnahmen das Wohl des Kindes vorrangig berücksichtigt werden muss, sieht die Realität für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland nicht selten anders aus. Stoppen Sie endlich die Abschiebungen aus Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen!

(Beifall bei der LINKEN)

Es drängt sich häufig der Eindruck auf, dass sich politisch ein rein instrumenteller Umgang mit Menschenrechten durchsetzt. Wenn die vermeintliche Durchsetzung von Menschenrechten dazu dienen kann, unliebsame Regierungen zu stürzen, dann wird der umfangreiche Instrumentenkasten der EU und ihrer Mitgliedstaaten gerne genutzt, um politisch Einfluss zu nehmen, wie etwa in Libyen, der Ukraine oder in Honduras. Wenn die Einhaltung von Menschenrechten aber der Profitmaximierung im Wege steht, dann sind sie deutlich weniger wert.

Betrachten wir einmal das Menschenrecht auf Wohnen, das im Artikel 11 des UN-Sozialpaktes garantiert wird. 335 000 Menschen sind aktuell in Deutschland wohnungslos. In den nächsten Jahren soll die Zahl auf eine halbe Million klettern, wenn sich nichts grundlegend ändert. Das Problem ist nicht in erster Linie, dass es zu wenig Wohnraum gibt, sondern vor allem, dass es zu wenig bezahlbare Wohnungen gibt. Der Leerstand von Wohnraum und die Immobilienspekulation müssen endlich wirksam bekämpft werden. Wir brauchen mehr öffentliche Sozialwohnungen.

(Beifall bei der LINKEN)

Zu den Prioritäten der Umsetzung der EU-Menschenrechtspolitik gehört die Vereinigungsfreiheit. Dazu gehört auch das Recht, Gewerkschaften zu bilden, sich kollektiv zu organisieren und gemeinsam für bessere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Dieses Recht ist in der EU nicht nur durch Entlassungen aufgrund von Gewerkschaftsaktivitäten in Gefahr, sondern auch durch die Spardiktate der Troika. In deren Folge wurden die Arbeitsgesetze in zahlreichen EU-Ländern geändert. In Griechenland, Italien, Portugal und Spanien können Unternehmen nun von den Branchentarifverträgen und gesetzlichen Bestimmungen abweichen. Damit existiert das Recht auf Kollektivvertragsverhandlungen zwar formal weiter, ist aber faktisch massiv eingeschränkt. Menschenrechte respektieren heißt auch Gewerkschaftsrechte stärken statt abbauen.

(Beifall bei der LINKEN)

In dem vorliegenden Bericht legt die EU dar, dass sie auf den sogenannten Menschenrechtsdialog setzt, um gegen Landnahme, Vertreibung und Angriffe auf die Rechte von Beschäftigten in Asien und Lateinamerika vorzugehen. Nicht erwähnt wird, dass solche Menschenrechtsverstöße häufig in direktem oder indirektem Zusammenhang mit dem Handeln transnationaler Unternehmen stehen. Ecuador startete 2013 im Menschenrechtsrat mit Unterstützung von 85 Ländern eine Initiative, mit der Unternehmen endlich für Menschenrechtsvergehen hätten zur Rechenschaft gezogen werden können. Leider haben die EU-Staaten als Block dagegengestimmt. Wer den Opfern so Klagemöglichkeiten zerstört und Kon­trollmöglichkeiten verwässert, der nimmt weitere Verstöße gegen Menschenrechte billigend in Kauf. Die Linke setzt sich ein für verbindliche Unternehmensregeln entlang der gesamten Lieferkette. Wir wollen verhindern, dass weitere Textilarbeiterinnen sterben und dass noch mehr Menschenrechtsverteidigerinnen ermordet werden. Dafür ist mehr nötig als ein unverbindlicher Menschenrechtsdialog.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe bereits zu Beginn meiner Rede darauf hingewiesen, dass ich es unerträglich und unmoralisch finde, wie zurzeit mit Flüchtlingen umgegangen wird. Die zahllosen Menschen, die im Mittelmeer ertrunken sind, sind mehr als „tragische Todesfälle“, wie im EU-Bericht beschrieben. Das Massensterben vor den Toren Europas ist das direkte Ergebnis der EU-Abschottungspolitik. Dieses Sterben kann nur beendet werden durch die Schaffung sicherer, legaler Einreisewege nach Europa.

(Beifall bei der LINKEN)

Die EU schafft unzählige Fluchtursachen: durch die bereits beschriebene Politik ihrer multinationalen Konzerne, durch Freihandel und eine Agrarpolitik, die nationale Entwicklungen zerstören, durch Rüstungsexporte sowie durch ihre Außen- und Militärpolitik. Es ist völlig unverständlich, warum sich die EU-Staaten nicht gemeinsam für das Recht auf Frieden und für die Ächtung von Atomwaffen einsetzen, anstatt in der UN dagegen zu stimmen.

Heute vor genau 50 Jahren wurde der UN-Sozialpakt von der Generalversammlung der Vereinten Nationen einstimmig verabschiedet. Es ist höchste Zeit, dass er umgesetzt wird, dass die ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechte von Menschen umgesetzt werden. Das Recht auf Arbeit, auf Bildung und auf soziale Sicherheit gilt für alle und muss deswegen auch für alle eingelöst werden, egal ob sie die deutsche Staatsbürgerschaft haben oder ob sie aus der EU oder aus anderen Ländern kommen. Gerechtigkeit und Solidarität sind nicht nur in der Vorweihnachtszeit zentrale Pfeiler für das Zusammenleben in einer Gesellschaft.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)