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Ich plädiere für Vernunft - alles andere wäre fatal

Rede von Petra Pau,

Bundestag, Antisemitismus-Debatte, Petra Pau, 04. 11. 2008

1. Mein erster Gedanke gilt den Millionen Jüdinnen und Juden, die in der NS-Zeit gedemütigt, vertrieben, ermordet wurden. Mein zweiter Gedanke gilt den Jüdinnen und Juden, die trotz alledem heute wieder unser Leben bereichern. Der Schmerz und der Dank gehören zusammen. Ebenso die Sorge, dass sich nie wiederhole, was schon einmal geschehen ist.

2. Vor 70 Jahren, am 9. November 1938, ging das NS-Regime zum offenen Angriff auf Jüdinnen und Juden über. Die so genannte Pogromnacht war die Generalprobe für den Holocaust. Und allzuviele sahen zu.

Eine Lehre aus dieser furchtbaren Geschichte war: Das NS-Regime kam nicht an die Macht, weil die NSDAP so stark war. Es kam an die Macht, weil die Demokraten in zentralen Fragen zerstritten und deshalb zu schwach waren. Ich wünschte, alle hätten diese Lektion gelernt.

3. Ich möchte an vier Ereignisse jüngeren Datums erinnern.

- Vor reichlich einem Jahr wurde in Berlin eine jüdische Schule mit antisemitischen Parolen beschmiert. Auf das Spielzeug des dazugehörenden jüdischen Kindergartens wurden SS-Runen gemalt.

- Die Fußballer des jüdischen Vereins TUS Makkabi brachen ein Spiel ab. Sie wurden fortwährend antisemitisch beschimpft und mit Sprechchören wie „hier regiert die NPD und nicht der DFB“ bedroht.

- Aktuelle empirische Untersuchungen belegen, dass 25 Prozent der Bevölkerung latent antisemitisch eingestellt sind, im Westen der Bundesrepublik Deutschland übrigens mehr, als im Osten.

- Eine Antwort der Bundesregierung auf eine Frage der Fraktion DIE LINKE ergab, dass seit Jahren im statistischen Schnitt Woche für Woche ein jüdischer Friedhof geschändet wird, und zwar bundesweit.

4. Die letztgenannte Meldung war übrigens der Anlass dafür, dass sich vor Jahresfrist Abgeordnete aus allen Fraktionen des Bundestages fanden, um gemeinsam etwas gegen diese schlimmen Befunde zu tun.

Und auch daran möchte ich erinnern: Im Mai hatten wir hier eine übereinstimmende Debatte aus Anlass „60 Jahre Israel“. Ich mahnte damals für die Fraktion DIE LINKE: Man kann nicht 60 Jahre Israel würdigen, ohne zugleich über den aktuellen Antisemitismus zu sprechen.

Abschließend sprach ich von der überfraktionellen Arbeitsgruppe gegen Antisemitismus. Im Protokoll ist dazu vermerkt: Beifall bei der Linken, bei der SPD, bei den Grünen, bei der FDP und bei der CDU/CSU.

5. Die gemeinsame Arbeit kam gut voran. Die Fachpolitiker suchten das Gemeinsame im Trennenden. Dann übernahmen einige Machtpolitiker das Vorhaben. Sie suchten das Trennende im Gemeinsamen.

Seither kann von einem starken Signal des Bundestages keine Rede mehr sein. Viele Kommentatoren, auch jüdische Organisationen, bescheinigen uns stattdessen ein Trauerspiel. Ich bedauere das außerordentlich.

Wie aber kommt es, dass die Union im Mai ein gemeinsames Vorhaben beklatscht und dasselbe ab September vehement bekämpft?

Ich habe dafür nur eine Erklärung: Die neue Wahlstrategie der Union für 2009 lautet kurz gefasst: DIE LINKE prügeln, um die SPD zu treffen.

Dass man dafür sogar ein mögliches Miteinander aller Bundestags-Parteien gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben opfert, das wiederum finde ich Geschichtsvergessen, kurzsichtig und würdelos.

6. Dasselbe trifft auf die meisten bemühten Unions-Vorwürfe gegen die Linksfraktion zu. Erst wurde suggeriert, die DDR sei mit Juden genauso umgegangen, wie seinerzeit das NS-Regime. Schließlich wurde DIE LINKE pauschal als antisemitisch diffamiert. Beides ist infam.

Wieder wurde ich von Journalisten bedrängt, ich möge doch endlich mit gleicher Elle heimzahlen. Aber auch das habe ich nicht getan. Ich wollte das kleinkarierte Parteiengezänk nicht noch selbst vergrößern.

Mein Rat ist viel älter. Ich empfehle insbesondere den vermeintlich christlichen Parteien: Johanniter. 8, 1 - 11, siebter Satz:
„Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein...!“

7. Es gibt ohnehin bessere Beispiele.

- In Delmenhorst fand sich parteiübergreifend ein sehr breites gesellschaftliches Bündnis, um zu verhindern, dass Neonazis dort ein bundesweites Schulungszentrum errichten - mit Erfolg.

- Im Land Brandenburg verhinderte ein ebenso breites Bündnis mit einem „Fest der Demokratie“, dass rechtsextreme Kameraden auf dem Soldaten-Friedhof bei Halbe ein Heldengedenken für die Wehrmacht inszenieren.

- Und erst vor wenigen Wochen hat die CSU im Bayerischen Memmingen gemeinsam mit der Linkspartei und vielen anderen gegen einen Aufmarsch der NPD demonstriert. Ich war dabei.

Sie alle haben einen Anspruch darauf, dass der Bundestag sie in ihrem alltäglichen Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus unterstützt und keine egoistischen Signale dagegensetzt.

8. Nun hat DIE LINKE den Antrag der anderen Fraktionen übernommen. Wir stellen ihn als eigenen Antrag wortgleich zur Abstimmung.
Ich appelliere an uns alle: Gehen wir souverän damit um.

DIE LINKE tut dies, wohl wissend, dass der aktuelle Antrag in seinen konkreten Vorhaben schwächer ist, als der Entwurf, den der überfraktionelle Arbeitskreis im Konsens unterbreitet hatte.

Und wohl wissend, dass die eigenen Vorschläge der Linksfraktion weitgehender sind, als es der Kompromiss des Arbeitskreises war.

Aber die akute Alternative heißt: Entweder der Bundestag schwächt die gesellschaftlichen Bündnisse oder wir kehren gemeinsam zur Vernunft zurück. Ich plädiere für die Vernunft. Alles andere wäre fatal.