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"Hartz IV macht Arbeitnehmer zu Freiwild"

Rede von Gesine Lötzsch,

Rede im Deutschen Bundestag am 13.09.07 zu den Haushaltsberatungen, Etat Arbeit und Soziales.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es wurde schon gesagt: Der Arbeitsminister verfügt über fast die Hälfte des Bundeshaushaltes. Selbst wenn man die Zuschüsse zu den Rentenkassen abzieht, sind es immer noch etwa 45 Milliarden Euro, die Herr Müntefering nächstes Jahr verteilen kann. Die SPD verweist gerne auf diese riesige Summe, um zu zeigen, wie sozial ihre Haushaltspolitik sei. Doch das ist sie nicht. Im Gegenteil: Es ist wirklich erschreckend, wie wenig Positives dieses viele Geld auf dem Arbeitsmarkt bewirkt.
Ich würde sogar weitergehen: Der Arbeitsminister richtet mit den Steuergeldern mehr Schaden als Nutzen an.
(Lachen bei der SPD)
Das liegt an der falschen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der alten und der jetzigen Bundesregierung. Die Agenda 2010 macht den Arbeitsmarkt kaputt und hat eine verheerende Spirale des Lohndumpings ausgelöst, die zu menschenunwürdigen Bedingungen geführt hat.
(Beifall bei der LINKEN - Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Das glaubt doch keiner mehr!)
Jeder von uns - auch die Kollegen auf der rechten Seite des Hauses - kennt Unternehmen, die sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in Minijobs zerstückelt haben. Jeder von uns kennt Unternehmen, die Leiharbeiter zu Hungerlöhnen beschäftigen und ihren Mitarbeitern so wenig zahlen, dass sie ihren Lohn durch das Sozialamt aufstocken lassen müssen.
(Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Die Linke!)
Das ist nicht hinnehmbar.
(Beifall bei der LINKEN - Klaus Brandner (SPD): Prekariat!)
Das Politikmagazin Fakt berichtete über folgenden Vorfall: Ein Maurer, der 43 Jahre Berufserfahrung hat und gerade zwei Monate arbeitslos war, wurde von der Arbeitsagentur zu einer Trainingsmaßnahme zur Eignungsfeststellung bestellt. Der Maurer durfte dort - ohne einen Cent verdient zu haben - 14 Tage schuften. Dann wurde er gefeuert. Das ist eine unerträgliche Situation.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Politik der Agenda 2010 hat aus Arbeitnehmern Freiwild für skrupellose Unternehmen gemacht. Diesen Machenschaften muss endlich ein Riegel vorgeschoben werden. Hier müssen Sie handeln, Herr Müntefering.
(Beifall bei der LINKEN)
Mein persönlicher Wahlslogan 2005 lautete: „Von Arbeit muss man leben können“. Man wirft uns gerne vor, wir seien populistisch.
(Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Sicher! - Zuruf von der SPD: Das sind Sie doch auch!)
Doch was ist an dieser Forderung populistisch? Eigentlich müsste jeder Politiker - dazu zählen wir alle in diesem Saal -, der für die sorgsame Verwendung von Steuergeldern Verantwortung trägt, mir zustimmen, dass diese Forderung nicht nur human, sondern auch haushaltspolitisch zwingend ist.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn es so weitergeht, dass Unternehmen ihre Lohnkosten senken und ihre Beschäftigten zum Sozialamt schicken, dann geht dieser Staat irgendwann Bankrott.
(Dirk Niebel (FDP): Mit Staatsbankrott kennen Sie sich ja aus!)
Immer mehr Menschen müssen zum Sozialamt gehen und Zuschüsse beantragen, weil ihr Lohn ihnen kein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Ihre Arbeitsmarktpolitik ruiniert die Menschen und die Staatsfinanzen.
(Beifall bei der LINKEN)
Das beste Mittel, um die Selbstbedienungsmentalität der Unternehmen zu stoppen, ist die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes, und zwar nicht nur für einzelne Branchen, sondern flächendeckend ohne Ausnahme, auch wenn es der rechten Seite des Hauses nicht gefällt. Bei dieser Forderung geht es nicht nur darum, die Armut zu bekämpfen, sondern der Mindestlohn verhindert auch, dass die Unternehmen von Mitnahmeeffekten profitieren.
Es ist zynisch, wenn immer wieder behauptet wird, dass Mindestlöhne den Arbeitsmarkt kaputt machen, wie es von der rechten Seite des Hauses gerne getan wird.
(Zuruf von der FDP: Mit Recht!)
Im Gegenteil: Der Arbeitsmarkt geht kaputt, weil viele Unternehmen keine Mindestlöhne zahlen. Jeder, der gegen Mindestlöhne ist, sollte sich einmal in Europa umschauen - interessanterweise gab es bei den vorhergehenden Redebeiträgen entsprechende Zurufe aus den Reihen der SPD -: In allen 20 Mitgliedstaaten der EU, in denen es einen gesetzlichen Mindestlohn gibt, wurden die Mindestlöhne in diesem Jahr sogar erhöht. Daran sollten wir uns orientieren.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich habe bisher noch nicht gehört, dass die Länder, in denen es einen gesetzlichen Mindestlohn gibt, den Notstand ausgerufen hätten.
Ich habe nicht genügend Zeit, um alle Details des Arbeitshaushaltes zu behandeln. Das ist aber auch nicht nötig. Ich habe nur das Beispiel Mindestlohn herausgenommen, um zu zeigen, wo der Systemfehler in der Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung liegt. Am Beispiel des Mindestlohnes, verehrter Kollege Steinbrück, kann man auch Ihre Vorwürfe an uns Linke entkräften, dass wir immer nur mehr Geld ausgeben wollten.
(Waltraud Lehn (SPD): Das ist richtig!)
Denn der Mindestlohn kostet den Staat keinen Cent. Im Gegenteil: Er bringt sogar Geld in die Kassen.
(Beifall bei der LINKEN - Gitta Connemann (CDU/CSU): Aber keine Arbeitsplätze!)
Ich denke, auch Sie können das nachrechnen.
(Gitta Connemann (CDU/CSU): Milchmädchenrechnung!)
Herr Kollege Müntefering, Sie haben öffentlich erklärt, dass die zweite Hälfte der Legislaturperiode sozialdemokratisch werden soll. Beweisen Sie es doch wenigstens in dieser Frage und setzen Sie den gesetzlichen Mindestlohn durch, und zwar nicht nur für einzelne Branchen, sondern für alle!
(Beifall bei der LINKEN)
Dann tun Sie etwas Gutes, und dafür werden Sie unsere Unterstützung bekommen, aber nur, wenn Sie entschlossen darangehen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)

Dateiende

Rede, gehalten im Deutschen Bundestag am 13.09.2007