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Gregor Gysi: Außenpolitische Chancen blieben bei Deutscher Einheit ungenutzt

Rede von Gregor Gysi,

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Samstag begehen wir den 30. Jahrestag der deutschen Einheit. Leider wurden damals die damit verbundenen Chancen auch außenpolitisch nicht genutzt. Wir erlebten das Ende des Systemwettstreits. Es gab Möglichkeiten für eine weltweite Verständigung. Stattdessen erlebten wir einen Freibrief für Kapitalinteressen, geostrategische Dominanz, inzwischen auch für Nationalismus und Rassismus.

(Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Märchenstunde!)

Wir erleben den Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den USA, in Lateinamerika, in der Türkei, auch in Europa. Alle finden sich damit ab, dass in den USA die Präsidentenwahl nicht mehr von den Wählerinnen und Wählern, sondern vom Obersten Gericht entschieden werden wird, um dessen Zusammensetzung jetzt gestritten wird.

(Zurufe von der FDP)

Das Völkerrecht, das während der Systemauseinandersetzung verhinderte, dass aus dem Kalten Krieg ein heißer wurde, wurde und wird Stück für Stück abgebaut. Es zählt anscheinend nur noch militärische Stärke. Begonnen hat es mit dem völkerrechtswidrigen Krieg der NATO gegen Jugoslawien, gefolgt vom Krieg gegen den Irak. Ich sehe den Krieg in Syrien, in Libyen. Ich denke auch an die Ukraine und an die Kriegsschiffe der Türkei vor Zypern und den griechischen Inseln, und ich sehe Bergkarabach.

Das Kosovo war der entscheidende völkerrechtliche Sündenfall. Es erfolgte die Abtrennung eines Teils eines Staatsgebietes ohne Zustimmung des Staates und gegen einen ausdrücklichen und klaren Beschluss des UN-Sicherheitsrates.

(Beifall bei der LINKEN)

Dies hat auch Landnahmen wie durch Russland in der Ukraine und durch Separationsbestrebungen wie in Katalonien und anderswo Tür und Tor geöffnet.

(Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Also, jetzt wird es aber heftig!)

Selbstverständlich darf man Russland kritisieren; aber den eigenen Beginn von Völkerrechtsverletzungen mit dem Krieg gegen Jugoslawien und der Abtrennung des Kosovo zu verschweigen, ist mehr als unredlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Für Deutschland war das eine Zäsur. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligten wir uns wieder an einem Krieg, und dann noch an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg.

1990 hätte Deutschland zu einem starken, weltweit agierenden Vermittler bei Konflikten werden können. Nur in unserem Land vereinigten sich Westen und Osten. Das rief geradezu nach einer Vermittlerrolle, die auch dem Charakter des Umbruchs in der DDR entsprochen hätte.

(Zuruf von der LINKEN: Richtig!)

Außerdem hätte sie auch unserer Geschichte vor 1945 und der Spaltung danach Rechnung getragen.

(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU)

Stattdessen wurde eine Rolle als Weltpolizist und Vasall der USA gesucht und gefunden.

(Beifall bei der LINKEN)

Es geht darum, eigene und europäische Interessen offen zu diskutieren, zu definieren und umzusetzen.

(Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Ich glaube, ich bin im falschen Film! Das ist Unsinn, was Sie erzählen! Völliger Unsinn!)

Ich will das Beispiel Energieversorgung nehmen: Nord Stream 2 mit russischem Erdgas für elf EU-Länder oder Fracking-Gas aus den USA. Interessant: Selbst die Grünen entschieden sich ernsthaft eher für das umweltschädlichere Gas. Na ja.

(Beifall bei der LINKEN – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Wir wollen beides nicht!)

Deutschland hat ein strategisches Interesse an guten Beziehungen zu den USA, Russland und China.

(Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Meine Herren! Oh!)

Dazu braucht man Grundvertrauen und Zuverlässigkeit; dann wird Kritik übrigens viel wirksamer.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber Arroganz, Vorurteile und Vasallentum bedeuten das Gegenteil von guten Beziehungen.

(Beifall bei der LINKEN – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Fakten beiseiteschieben!)

Menschenrechte sind unteilbar. Ich sage es jeder Seite in diesem Haus, auch der Regierung: Man macht sich unglaubwürdig, wenn man Verletzungen der Menschenrechte bei einigen Ländern scharf kritisiert und bei anderen Ländern übersieht.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Genau so ist es!)

Das berührt die Flüchtlingsfrage, Demokratie, Freiheit, den Minderheitenschutz, Schutz vor Armut, Erhalt der Lebensgrundlagen bis hin zum Klima und zum Zugang zu Kunst, Kultur, Bildung, Ausbildung, Wasser, Energie und Nahrung.

Der Außenminister ruft überall nach Sanktionen, nur bei der Türkei nicht.

(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ja!)

Hier gibt es ein vollständiges Versagen der Bundesregierung, der NATO und der EU:

(Beifall bei der LINKEN)

keine irgendwie nennenswerte Reaktion beim völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei in Syrien,

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

bei der Tötung der Kurdinnen und Kurden dort, die an unserer Seite gegen den „Islamischen Staat“ kämpften,

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

ebenso keine Reaktion beim Einmarsch in Libyen, bei der Entsendung von Kriegsschiffen nach Zypern und Griechenland

(Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Einstellung aller Gespräche über Visaliberalisierung! Aussetzung der Gespräche über die Zollunion! Alles passiert, Herr Gysi! Sie erzählen Unsinn!)

oder jetzt bei der militärischen Einmischung in Bergkarabach.

Und warum sind Deutschland, die NATO und die EU so schwach? Weil Erdogan damit droht, viele seiner 4 Millionen Flüchtlinge nach Europa auswandern zu lassen. Sie lassen sich wegen einer solchen Drohung ernsthaft unsere Souveränität nehmen?

(Zuruf des Abg. Alexander Graf Lambsdorff [FDP])

Deshalb dulden Sie jede Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzung der Türkei?

(Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Jetzt wird es auch noch eine AfD-Rede!)

Und das Ganze auch noch unter der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands?

Ihr eigenes Außenministerium hat vertraulich der Türkei attestiert, keine Versammlungs-, Vereinigungs-, Meinungs- und Pressefreiheit mehr zu haben. Und es hat wörtlich gesagt, dass die Justiz „in weiten Teilen dysfunktional“ und politisch beeinflusst ist. Gewählte Bürgermeister und Parlamentarier werden in der Türkei einfach abgesetzt und eingekerkert. Ihr diesbezügliches Versagen – das muss ich Ihnen sagen – ist noch schlimmer als Ihr Einknicken gegenüber Orban und Duda in der Frage der Durchsetzung rechtsstaatlicher Standards in Ungarn und Polen.

(Beifall bei der LINKEN)

Zu Belarus. Die Regierungsseite muss endlich erkennen, dass ihre Strukturen überholt sind und große Teile der Bevölkerung diese Strukturen nicht mehr akzeptieren. Die Protestierendenden müssen wissen, dass es auch Anhänger der Regierung gibt. Deshalb sollte der Weg der runden Tische beschritten werden.

(Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Unterdrücker!)

Nur so können Auswege zu Demokratie und Freiheit gefunden werden.

(Zuruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Gewalt ist schlimm und verhindert eine politische Lösung; das muss die Regierung begreifen. Sie verzögert nur ihren Abtritt, kann ihn aber nicht verhindern. Natürlich brauchen wir freie, demokratische, faire Wahlen unter Beobachtung der OSZE, und das Ergebnis haben dann alle zu akzeptieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Die deutsche Außenpolitik ist zurzeit nicht konsistent, viel zu wenig eigenständig und in Teilen hilf- und ziellos.

(Beifall bei der LINKEN – Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Wir beenden die Ausstrahlung von Russia Today!)