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»Gemeinschaftsschulen sind sinnvoll, alles andere ist soziale Ausgrenzung«

Rede von Gregor Gysi,

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Ich weiß nicht, ob es für die CSU gerade die richtige Zeit ist, sich so ausführlich zur Familienpolitik zu äußern.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Damit kennen sie sich aus! - Dorothee Bär (CDU/CSU): Wann denn sonst?)

Aber davon abgesehen haben wir ein gravierendes gesellschaftspolitisches Problem, das sich über viele Jahre entwickelt hat. Ich werde es Ihnen ganz kurz zusammengefasst wie folgt nennen: Kinder waren mal für die Familien ein Sicherheitsfaktor   Kinder sind inzwischen für die Familien ein Unsicherheitsfaktor. Wenn wir das nicht ändern, dann nutzt Ihr komischer Gipfel, auf dem Sie erzählen, dass wir irgendwann nur noch 63 Millionen statt 80 Millionen sind, überhaupt nichts.

(Sibylle Laurischk (FDP): So ein Quatsch!   Manfred Grund (CDU/CSU): Kinder als Unsicherheitsfaktor? Was haben Sie für ein Weltbild?)

Sie müssen die Bedingungen dafür schaffen, dass die Leute wieder gerne Kinder bekommen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben es nicht handwerklich verlernt, sondern die Bedingungen stimmen nicht.
Das Bildungssystem in Deutschland ist altmodisch und antiquiert, chronisch unterfinanziert und unterscheidet die Bildungschancen ganz klar nach sozialer Herkunft.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN - Manfred Grund (CDU/CSU): Auch Quatsch!)

Andreas Schleicher, der PISA-Koordinator der OECD, hat gesagt: Wenn wir die Kinder des 21. Jahrhunderts von Lehrern mit einem Ausbildungsstand des 20. Jahrhunderts in einem Schulsystem unterrichten lassen, das im 19. Jahrhundert konzipiert wurde, dann kann das so nicht funktionieren.

Das gegliederte Schulsystem stammt aus dem Kaiserreich. Wir haben es bis heute nicht überwunden. Das ist ein Skandal sondergleichen.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Stefan Ruppert (FDP): Das ist falsch!)

Jetzt komme ich zum nationalen Bildungsbericht der Bundesregierung, also unser aller gemeinsamen Bundesregierung, gesetzt von CDU, CSU und FDP, von 2012. Was steht da drin? 50 000 junge Menschen sind ohne Schulabschluss. 300 000 Ausbildungssuchende   das sind 30 Prozent   landen in Übergangsschleifen. 1,5 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren sind ohne Berufsabschluss. 7,5 Millionen Menschen   das alles laut Bundesregierung   oder 14,5 Prozent der Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren sind funktionale Analphabeten. 29 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren wachsen in sogenannten Risikolagen auf, also mit armen oder bildungsfernen Elternhäusern.

(Sibylle Laurischk (FDP): In welchen Bundesländern?)

Der Zusammenhang zwischen Bildungschancen und sozialer Herkunft wird an einem Beispiel deutlich   mehr Zeit habe ich nicht  : 24 Prozent der Kinder von Nichtakademikern studieren sowie 71 Prozent der Kinder von Akademikern. Da ist doch ganz klar, welcher soziale Unterschied hier durch eine falsche Struktur im Bildungssystem manifestiert wird.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die öffentlichen Bildungsausgaben sind bei uns im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung um 20 Prozent geringer als in den meisten Industriestaaten, im Vergleich zu Skandinavien sogar um 50 Prozent. Der Gipfel ist, dass Lehrerinnen und Lehrerinnen zum Teil prekär beschäftigt sind.

(Dorothee Bär (CDU/CSU): Der Gipfel ist Ihre Rede! Die ist der Gipfel!)

Wenn dann gesagt wird: „Das sind ja bloß Vertretungen“, dann sage ich: Dann sorgen Sie doch dafür, dass sich endlich die Arbeitsbedingungen für Lehrerinnen und Lehrer verbessern und es an allen Schulen in Deutschland eine ausreichende Zahl von Lehrerinnen und Lehrern gibt!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Ganze machen wir als ein Industriestaat, der kaum über Rohstoffe verfügt und schon deshalb, aber auch wegen der sozialen Gerechtigkeit auf eine gute Bildung angewiesen ist. Wir haben 16 Bundesländer, 16 verschiedene Schulsysteme und 16 verschiedene Lehrpläne. Ich bitte Sie, da hat der Mann doch recht. Das ist 19. Jahrhundert. Das ist die Zeit der Postkutschen. Es hat mit dem 21. Jahrhundert rein gar nichts zu tun.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es ist doch die Union, die immer den flexiblen Arbeitsmarkt predigt und sagt: Ein Ingenieur oder eine Lehrerin müssen eben dahin umziehen, wo sie einen Job kriegen, ob in Bayern, in Hessen oder in Mecklenburg-Vorpommern.   Aber sie sollen auch Kinder haben, nach Ihren Vorstellungen am besten drei. Aber dann frage ich Sie: Wie sollen sie das gegenüber den Kindern verantworten, wenn sie jedes Mal das Schulsystem wechseln? Das wäre völlig unverantwortlich. Schaffen Sie endlich Bedingungen, dass wir von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern ein Top-Bildungssystem haben, sodass man umziehen kann, ohne sich Sorgen zu machen!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN   Manfred Grund (CDU/CSU): Welches System nehmen wir denn? Bremen oder Bayern?)

Wir können nicht   ich habe es schon gesagt   von der einfachen Reproduktion der Bevölkerung ausgehen. Sie haben gerade gesagt: Bis zum Jahr 2060 wird die Bevölkerung von 81,7 Millionen auf 65 Millionen Menschen sinken. Das wollen Sie dadurch ausgleichen, dass Sie Fachkräfte aus der Dritten Welt nach Deutschland holen wollen.

(Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Wer sagt denn das?)

Vielleicht braucht die Dritte Welt ihre Fachkräfte selbst. Vielleicht sollten wir andere Wege gehen. Es geht schließlich auch um Integration. Ich nenne Ihnen eine spannende Zahl: 2,87 Millionen Menschen, zum Teil auch Deutsche, leben in Deutschland mit Bildungsabschlüssen aus anderen Ländern, die hier nicht anerkannt sind. Warum eigentlich nicht?

(Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Wir haben ein Anerkennungsgesetz auf den Weg gebracht!)

- 500 Anerkennungen im letzten Jahr. Das ist ja eine tolle Zahl.

(Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Das ist Quatsch! 30 000 haben die Anerkennung bekommen!)

Wir brauchen eine gebührenfreie Anerkennung ausländischer Abschlüsse.

(Dorothee Bär (CDU/CSU): Sie fälschen absichtlich die Zahlen!)

Dort, wo es erforderlich ist, muss eine Nachqualifikation gebührenfrei angeboten werden; anders geht es überhaupt nicht. Das wäre einmal eine Leistung bei der Integration.

(Beifall bei der LINKEN)

Welche Schule brauchen wir? Ich sage Ihnen ganz klar, auch wenn Sie das nicht hören wollen: Ja, die Gemeinschaftsschule ist die Lösung. Ich weiß, dass Sie die Gemeinschaftsschule immer Einheitsschule nennen. Das ist großer Quatsch. Gemeinschaftsschulen lassen sich ganz unterschiedlich ausrichten.

(Dorothee Bär (CDU/CSU): Einheitspartei war das bei Ihnen, glaube ich!)

- Warten Sie doch!   Man kann Gemeinschaftsschulen für alte Sprachen, für neue Sprachen, für Musik, für Sport, für Tanz und für Mathematik und Naturwissenschaften einrichten. Man kann das sehr unterschiedlich gestalten. Ich will Ihnen die Vorteile der Gemeinschaftsschule, wie wir sie in Berlin eingerichtet haben, nennen: Es gibt keinen Schulwechsel mehr und keine feste Aufteilung in nach Leistung sortierten Gruppen, sondern einen individualisierten Unterricht und Förderung nach den jeweiligen individuellen Fähigkeiten. Gemeinschaftsschulen sind Ganztagsschulen. Das alles ist ein großer Vorteil.

Als die Gemeinschaftsschulen in Berlin gegründet wurden, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeitgleich begonnen, die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler, die eine Gemeinschaftsschule in Berlin besuchen, mit der von Schülerinnen und Schülern in Hamburg zu vergleichen. Bei dieser Untersuchung ist etwas Interessantes herausgekommen: Die leistungsschwachen Schüler in Berlin sind deutlich stärker als die in Hamburg, und die leistungsstarken Schüler in Berlin sind auch besser als die in Hamburg.

(Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Hamburg ist wohl nicht der Maßstab!)

Die Mär, dass gerade die Leistungsstarken unter einer Gemeinschaftsschule leiden, ist damit für immer wissenschaftlich widerlegt.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich werde Ihnen auch sagen, warum diese Mär schon immer Quatsch war. Wenn Sie Kinder auf Eliteschulen schicken, dann isolieren Sie sie. Wenn Sie sie isolieren, dann lernen sie nicht sozial. Diese Kinder haben zwar ein größeres Faktenwissen, aber sie können letztlich nicht sozial damit umgehen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Übrigens hat die Studie noch ergeben - auch das ist interessant -, dass das Faktenwissen der bayerischen Abiturienten größer ist als das der Berliner. Das glaube ich sofort, weil ich Abiturienten aus beiden Bundesländern kenne. Andererseits ist auch festgestellt worden, dass die Berliner Abiturienten Zusammenhänge besser erklären können. Nun frage ich Sie: Was ist eigentlich so schlimm daran?

(Dorothee Bär (CDU/CSU): Jetzt wird es aber abstrus!)

Die bayerischen Abiturienten wissen genauer, wer wann geboren und gestorben ist, und die Berliner, warum. Warum darf man das eigentlich nicht zusammenführen? Ich verstehe es nicht.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dann sage ich Ihnen noch etwas zur Gemeinschaftsschule. Es gibt wahrscheinlich mehrere Abgeordnete im Bundestag, die eine Gemeinschaftsschule besucht haben, aber zumindest von zwei Abgeordneten weiß ich es. Das sind Angela Merkel und Gregor Gysi. Wir beide haben eine Gemeinschaftsschule besucht. Glauben Sie im Ernst, dass wir beide die Dümmsten im Bundestag sind? Das kann sein, aber ich habe meine Zweifel. Ich will nur sagen: Gemeinschaftsschulen sind sinnvoll. Alles andere ist soziale Ausgrenzung. Wir müssen jede Begabung fördern. Das haben die Kinder verdient, und das haben wir verdient. Kinder können nichts dafür, wenn ihre Eltern Hartz-IV-Empfängerinnen und -empfänger sind. Kinder dürfen nach der vierten oder sechsten Klasse nicht aussortiert werden. Ich finde das abenteuerlich. Lassen Sie uns endlich ein wirklich modernes Bildungssystem in Deutschland einführen, und zwar für alle Kinder.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)