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Für eine menschenrechtsorientierte Evaluation des Zuwanderungsgesetzes

Rede von Ulla Jelpke,

Rede zum Tagesordnungspunkt 18 der 50. Sitzung des 16. Deutschen Bundestages 1. Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE. auf Bt-Drs 16/1204 „Auswirkungen des Zuwanderungsgesetzes sofort evaluieren“

Anrede,

das Zuwanderungsgesetz hat die Probleme von Hunderttausenden hier lebender Flüchtlinge und ihrer Kinder nicht gelöst. Es liegt zwar mittlerweile eine Art Evaluation vor. Sie erschien, nachdem wir unseren Antrag eingereicht hatten. Nur: Was die Bundesregierung da vorgelegt hat, beantwortet nicht die zentralen Fragen und Probleme.

Dazu gehören vor allem die so genannten Kettenduldungen, die nicht wie versprochen beendet wurden. Über 200.000 Menschen erhalten Quartal für Quartal ihren neuen Duldungsbescheid, jedes Mal ohne zu wissen, ob ihre Duldung auch wirklich verlängert wird, ohne zu wissen, was langfristig aus ihnen werden soll. Die Frage ist: Gibt der Bericht der Bundesregierung Antworten, warum es diese Kettenduldungen immer noch gibt? Gibt er Antworten, wie die Ausländerbehörden ihre Ermessensspielräume nutzen, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen? Wie sich die Situation insbesondere für Kinder und Jugendliche entwickelt hat?
Nein, darauf gibt der Bericht keine Antwort. Denn er stellt diese Fragen gar nicht. Er betrachtet die Betroffenen als Lügner und Betrüger, die sich ihren Aufenthalt in Deutschland erschleichen wollen. Das ist die Perspektive, die uns auch die Unionsfraktion immer wieder präsentiert, und das ist eine menschenfeindliche Perspektive.

Anrede,

im Rahmen der Evaluation gab es den Praktiker-Erfahrungsaustausch, den das Bundesinnenministerium am 30. und 31. März veranstaltet hat. Flüchtlingsorganisationen, Kirchen und Juristen haben darüber hinaus weitere Stellungnahmen abgegeben. Sie alle sprachen sich für rechtliche Verbesserungen im Sinne der Flüchtlinge aus. Nur so könne das Problem der Kettenduldungen gelöst werden.
Der Bericht hat keine dieser Stellungnahmen und Forderungen berücksichtigt. In einer Pressemitteilung der evangelischen und der katholischen Kirche vom 24. Juli heißt es, ich zitiere: „Der Evaluationsbericht ist leider an vielen Stellen von Misstrauen geprägt.“ Besonders zu kritisieren sei es, dass der Bericht zum Problem der Kettenduldungen keine Verbesserungen enthalte. Die Flüchtlingsorganisation pro asyl bezeichnete die Evaluation als Farce. Die enthaltenen Änderungsvorschläge seien ein „Katalog von asyl- und migrationspolitischen Grausamkeiten“. Amnesty international beklagt in einer Stellungnahme vom 25. Juli, dass Migranten und Schutzsuchende unter den Generalverdacht gestellt würden, sie wollten die deutschen Gesetze missbrauchen.
Die Bundesregierung hat in ihren Änderungsvorschlägen lediglich die restriktiven Vorschläge der Innenminister berücksichtigt. Der gleichen Innenminister, die seit Jahren eine wirkliche Lösung des Problems der Kettenduldungen verhindern.

Anrede,

Kettenduldungen treffen die Schwächsten der Gesellschaft am härtesten: Kinder und Jugendliche. Viele sind hier geboren, gehen hier zur Schule. Und dann kommt, nach vielen Jahren, auf einmal ein Bescheid der Ausländerbehörde, dass sie das Land, in dem sie aufgewachsen oder geboren sind, verlassen müssen. Sie werden in ein Land abgeschoben, dessen Sprache sie oft nicht sprechen.

Immer wieder berichten Zeitungen von solchen Fällen. Oft protestieren Schülerinnen und Schüler dagegen, dass ihre Freunde abgeschoben werden sollen. In Düsseldorf wird morgen ein „Unterstützerkreis für die Familie Idic“ mehr als 1.000 Unterschriften an die Ausländerbehörde übergeben. In dem Aufruf heißt es, ich zitiere:

„Das Schicksal der Düsseldorfer Familie Idic, Mutter Resmi Idic mit ihren vier Kindern Semra (17), Merima (14), Vesna (11) und Edijan (6) - der Vater wurde im November 2005 abgeschoben -, macht viele Menschen in unserer Stadt sehr betroffen. Niemand versteht, warum diese gut integrierte Familie weiterhin von Abschiebung bedroht ist.“

Anrede,

Dies ist nur ein Beispiel von tausenden. Es zeigt, dass wir hier über Menschen sprechen, die längst in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben. Das wird auch von den meisten Deutschen anerkannt. 68% der Bevölkerung sind dafür, Menschen mit langjähriger Duldung eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Das hat eine Umfrage des „Spiegel“ im Juni gezeigt

Wir reden hier von Menschen, die integriert sind. Ihre Abschiebung ist selbst dann eine unmenschliche Härte, wenn ihnen nicht Elend, Krieg und politische Verfolgung drohen. Denn auf jeden Fall sind diese Abschiebungen Mittel, mit denen Menschen entwurzelt werden. Und dieses Geschäft betreiben ausgerechnet jene, die ein „sichtbares Zeichen gegen Vertreibungen“ fordern, wenn es um Deutsche geht. Das ist die pure Heuchelei!

Anrede,

morgen werden die Innenminister von Bund und Ländern wieder einmal über eine Bleiberechtslösung debattieren. Es steht zu befürchten, dass sie sich, wieder einmal, nicht einigen können. Oder sie beschließen eine Regelung, die die Probleme nicht löst. Die aktuell diskutierten Vorschläge weisen leider in diese Richtung. Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis wird an Bedingungen geknüpft, die für viele Geduldete nicht erfüllbar sind.

Eine praktikable Bleiberechtsregelung muss darauf verzichten, einen Nachweis zu fordern, dass der Lebensunterhalt selbständig bestritten wird. Gerade für Jugendliche, die sich für eine Ausbildung oder ein Studium entscheiden, ist das ein zentraler Punkt. Auch eine Stichtagsregelung, wie sie hier öfter in die Debatte geworfen wird, ist in hohem Maße unpraktikabel. Das haben die Erfahrungen der 90er Jahre deutlich gezeigt. Wir fordern, dass die Bundesregierung im Rahmen der anstehenden Änderungen des Zuwanderungsgesetzes entsprechende Vorschläge unterbreitet.
Morgen demonstrieren vor dem Innenministerium Jugendliche für ein Bleiberecht. Ihr Motto: „Hier geblieben!“. Dem schließen wir uns voll und ganz an!