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Freizügigkeit herstellen - Residenzpflicht abschaffen

Rede von Sevim Dagdelen,

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften (BT-Drs. 17/10746) sowie der Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuss) (BT-Drs. 17/11105)

Bereits bei der ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfs zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes habe ich erklärt, dass DIE LINKE es selbstverständlich begrüßt, wenn künftig Lebenspartnerinnen und Lebenspartner von Unionsangehörigen mit Ehegatten aufenthaltsrechtlich gleichgestellt werden. Diese Korrektur war allerdings auch überfällig.
Auch dass künftig keine so genannten Freizügigkeitsbescheinigungen mehr beantragt werden müssen, ist im Prinzip eine Erleichterung. Jedoch erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie die Behörden, die Öffentlichkeit und die Betroffenen über diese Änderung umfassend informiert, auch wenn diese Änderung rein rechtlich betrachtet minimal ist, weil diese Bescheinigung schon immer nur einen deklaratorischen Wert hatte. Doch im bürokratiegeprägten bundesdeutschen Alltag ist es schon eine kleine Revolution, wenn Menschen nicht-deutscher Staatsangehörigkeit über ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland keinerlei behördliche Bescheinigung mehr vorweisen müssen – bzw. nicht können. Und das ist auch das Problem: Zumindest einzelne Behördenvertreter, etwa in den Sozialämtern, aber auch Privatpersonen, wie Vermieter und Arbeitgeber, und die Betroffenen selbst werden verunsichert sein, wenn es kein Papier mehr gibt, das Unionsbürgerinnen und -bürger bestätigt, dass sie sich hier legal aufhalten. Deshalb halte ich eine systematische und breite Bekanntmachung dieser Rechtsänderung für dringend erforderlich, damit sie sich für Unionsangehörige nicht nachteilig auswirkt. Auch soll sich damit im allgemeinen Bewusstsein festsetzen, dass EU-Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich keine Aufenthaltserlaubnis und auch keine amtliche Bescheinigung brauchen, wenn sie in Deutschland leben wollen!

Die Gründe, aus denen DIE LINKE den Gesetzentwurf ablehnt, hatte ich ebenfalls bereits bei seiner Einbringung benannt. Sie gelten verstärkt fort, weil die Koalition im Gesetzgebungsverfahren keinerlei Änderungen mehr vorgenommen und auch unseren beiden Änderungsanträgen nicht zugestimmt hat.

Dabei hätte die Koalition zumindest unserem Antrag zur Umsetzung des so genannten Rahman-Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 5. September 2012 eigentlich zwingend zustimmen müssen. Inhaltlich geht es darum, dass ein Nachzug von entfernten Verwandten nach derzeit geltendem Recht in Deutschland nur im außergewöhnlichen Härtefall und nur nach Maßgabe des Aufenthaltsgesetzes möglich ist (§ 36 Abs. 2 AufenthG) – meines Wissens nach kommt diese Regelung in der Praxis kaum zur Anwendung. Dies wird dem genannten Urteil nicht gerecht, wonach Unionsangehörige gegenüber Drittstaatsangehörigen „in gewisser Weise bevorzugt“ behandelt werden müssen – wie auch immer man eine solche Ungleichbehandlung politisch bewertet. Und weiter forderte der EuGH, dass die Einreisebedingungen für diese Gruppe wirksam erleichtert werden müssen – die überaus hohen Hürden eines außergewöhnlichen Härtefalls entsprechen dem nicht.
Dass die Bundesregierung Urteile des EuGH ignoriert, wenn diese nicht in ihr politisches Konzept passen, ist im aufenthaltsrechtlichen Kontext leider kein Einzelfall. Auch beim EWG-Türkei-Assoziationsrecht, beim Familiennachzug und bei Regeln zu EU-Binnengrenzkontrollen ist dies festzustellen, nun also auch beim Freizügigkeitsrecht. Wie ist eigentlich die Haltung der Bundesjustizministerin zu diesem inakzeptablen Umgang mit dem Europäischen Gerichtshof? Ich erinnere daran, dass die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik eingeleitet hat wegen unzureichender Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie, unter anderem wegen der Zuzugsbestimmungen von entfernteren Verwandten. Die Bundesregierung hatte bislang erklärt, dass sie das Urteil des EuGH zu dieser Frage abwarten wolle, um dann hieraus die Konsequenzen zu ziehen. Nun liegt dieses Urteil vor, und ich frage Sie: Wann, wenn nicht jetzt, wollen Sie das nationale Recht endlich den europäischen Vorgaben anpassen? Die Frist zur Umsetzung ist bereits im Jahr 2006 verstrichen!
Unfassbar ist vor diesem Hintergrund die gestrige Antwort der Bundesregierung auf meine Frage nach der fehlenden Umsetzung des Rahman-Urteils: „Derzeit wird geprüft, inwieweit sich gegebenenfalls Rechtsänderungsbedarf aus dem EuGH-Urteil in der Rechtssache Rahman ergibt“. Da ist die Bundesregierung zwar schlauer als die CDU/CSU-Fraktion, die im Innenausschuss noch erklärt hatte, dass alles mit der EuGH-Rechtsprechung vereinbar sei. Aber wenn ein Bundesministerium auch nach sieben Wochen noch dazu nicht in der Lage ist, die notwendigen Schlüsse aus einem gerade einmal neunseitigen Urteil zu ziehen, dann ist das mehr als ein Armutszeugnis!

Leider fand auch unser Änderungsantrag, auf die neue ausdrückliche Missbrauchsregelung zu verzichten, keine Mehrheit im Ausschuss. Nur die Grünen stimmten zu. Die SPD enthielt sich, weil sie den in der Gesetzesbegründung zitierten – aber nicht im geringsten belegten! – Angaben der Länder folgte, wonach es angeblich „eine nicht unerhebliche Zahl von Fällen“ gebe. Dabei haben wir mehrfach darauf hingewiesen, dass es keinerlei empirische Belege für eine verbreitete oder gestiegene Missbrauchspraxis gibt. Selbst die im staatlichen Auftrag erarbeiteten Studien bestätigen dies. Die Zahl der polizeilich registrierten Verdachtsfälle auf (angebliche) „Scheinehen“ ist in den letzten 10 Jahren massiv zurückgegangen, die Zahl von bundesweit 734 entsprechenden Verdachtsfällen im Jahr 2011 lag um ein Viertel unterhalb des Vorjahreswerts. Auch das Metock-Urteil des EuGH aus dem Jahr 2008 war kein „großes Einfallstor für Rechtsmissbrauch“, wie Bundesinnenminister Schäuble auf EU-Ebene gewarnt hatte. Infolge des Urteils gab es schlicht keinen signifikanten Anstieg des Familiennachzugs. Doch zu den rechtspopulistischen Tönen von damals passt, was nun die CDU/CSU-Fraktion im Innenausschuss zu unserem Änderungsantrag erklärte: Dieser sei eine „Unterstützungsaktion für Scheinehen“.
In diesem Zusammenhang möchte ich schon aber darauf hinweisen, dass so genannte „Scheinehen“ – andere nennen sie „Schutzehen“ – für viele wegen des restriktiven bundesdeutschen Rechts – verstärkt durch europarechtswidrige Haltung der Bundesregierung - und einer mitunter auch feindseligen Praxis in den Ausländerbehörden der einzige Weg sein kann, Menschlichkeit und Menschenrechte in der Praxis für sich in Anspruch zu nehmen.

Doch unabhängig davon, ist und bleibt auch jener Einwand der CDU/CSU schlicht falsch, dass in Missbrauchsfällen bislang ein Freizügigkeitsrecht entstand. Das ist völlig absurd, wie den einschlägigen Verwaltungsvorschriften zum Gesetz zu entnehmen ist. Einer besonderen Regelung hat es also keinesfalls bedurft. Wir befürchten, dass die Neuregelung von den Behörden als ein Warnsignal verstanden (werden soll) und zu einer verschärften Prüfpraxis führen wird. Die Folgen dieses staatlich gesäten Misstrauens könnten dann unzulässige Verdächtigungen, Denunziationen, Ausspähungen und Be- oder Verhinderungen des Zusammenlebens vieler binationaler Paare sein. Deshalb lehnen wir diese Verschärfung ab!

Abschließend lassen Sie mich noch einmal sagen: Wenn Sie schon ein Gesetz beschließen, das das Wort „Freizügigkeit“ im Titel führt, dann stellen Sie bei dieser Gelegenheit doch endlich auch die Freizügigkeit für alle Menschen in Deutschland her – und beenden Sie die menschenrechtswidrige und diskriminierende Residenzflicht für Asylsuchende und Geduldete! Sie reden von Freizügigkeit, aber drangsalieren Flüchtlinge und schränken ihre Bewegungsfreiheit gnadenlos ein. DIE LINKE. ist solidarisch mit den Flüchtlingen, die vor drei Wochen nach einem 600 Kilometer langen Protestmarsch aus Würzburg in Berlin eingetroffen sind und nun ihren Protest gegen die Residenzpflicht, Abschiebungen und die Lebensbedingungen von Asylbewerbern in Deutschland durch ein Protestcamp am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg und durch einen gestern begonnenen Hungerstreik auf dem Pariser Platz am Brandenburger Tor zum Ausdruck bringen.