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»Frau Merkel, Sie finden keinen Weg aus der Krise«

Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi antwortet auf die Regierungsklärung der Bundeskanzlerin zum EU-Gipfel am 9. November in Brüssel

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Also, gelegentlich wird man hier überfordert.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben wir!)

  Ja, das will ich Ihnen gleich begründen.

Ich muss Ihnen sagen, Herr Brüderle: Wenn Sie den Begriff Genosse in den Mund nehmen, klingt das widernatürlich.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN – Rainer Brüderle (FDP): Das ist auch widernatürlich!)

Obwohl ich sehr fantasievoll bin, fällt es mir auch sehr schwer, mir Frau Merkel bei einem Marathonlauf vorzustellen.

(Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD)

Zum Ernst der Situation zurück: Die Diktatur der Finanzmärkte hat sich verschärft. Sie ist doch nicht abgebaut worden. Ganz im Gegenteil. Die Ursachen schildern Sie falsch, Frau Bundeskanzlerin. Nicht die Staatsverschuldung ist die Ursache der Krise, sondern die Macht der Banken, der Versicherungen, der Fonds und ihre weltweite Spekulationen sind die Ursachen der Krise. Genau das führt zu der hohen Staatsverschuldung. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn man hier nicht mitgeht, dann kann man die Ursachen nicht wirksam bekämpfen. Ich sage auch: Frau Merkel, Sie finden keinen Weg aus der Krise heraus. Im Gegenteil: Schon die EU-Gipfelbeschlüsse vor sechs Wochen sind doch überholt. Inzwischen wird auch gegen Italien, Belgien, selbst gegen Österreich und Finnland spekuliert. Frankreich muss höhere Zinsen auf seine Staatsanleihen zahlen. Deutschland versuchte, Staatsanleihen für 6 Milliarden Euro zu verkaufen. Was erreichte der Bundesfinanzminister? Staatsanleihen in Höhe von 2 Milliarden Euro wurden gekauft, die restlichen 4 Milliarden Euro wollte niemand haben, weil die Zinsen zu niedrig sind. Es geht um eine andere Konstruktion.

Herr Steinmeier, in einem Punkt widerspreche ich Ihnen. Die Kanzlerin macht schon etwas. Sie gestaltet Europa um   aber völlig falsch. Im Vertrag von Lissabon gibt es zum Beispiel eine Bestimmung, die die Kontrolle des Kapitalverkehrs verbietet. Vielleicht sollte man diese Bestimmung einmal aufheben, wenn man den Vertrag ändert.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber nun haben die Zentralbanken aus den USA, Japan, der Schweiz, Kanada und übrigens auch die EZB eingegriffen, und zwar indem sie den Banken Geld zu ganz niedrigen Zinssätzen angeboten haben. Das haben sie natürlich ganz einfach gedruckt. Darauf haben sie auch hingewiesen. Aber das macht die EZB mit, wenn ich darauf verweisen darf. Das Problem ist: Die Börsen jubeln, aber den Menschen in Griechenland und Italien nutzt das überhaupt nichts. Mit den Interessen von 99 Prozent der Bevölkerung in diesen Ländern hat das alles gar nichts zu tun. Im Kern geht es um drei Wege, die beschritten bzw. diskutiert werden. Es ist interessant, diese Wege genau zu betrachten und Vergleiche anzustellen.

Der erste Weg ist der   Herr Brüderle, hier sind Sie beleidigt, aber hier hat Herr Gabriel recht  , den Reichskanzler Heinrich Brüning gegangen ist, nämlich durch drastischen Sozialabbau die Probleme angeblich zu lösen. Genau diesen Weg geht für ganz Europa Frau Merkel. Das ist ein einziger Skandal.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist eine verschärfte Agenda 2010, die dort angewandt wird. Die Investitionen werden in Europa zurückgefahren. Ihre Hoffnung ist   jetzt will ich einmal Ihrer Theorie folgen  : Wenn man Sozialabbau betreibt, die Renten kürzt, weitere Schikanen gegenüber der Bevölkerung durchführt und sogar noch die Investitionen abbaut, dann werden auch die Staatsschulden geringer. Wenn die Staatsschulden geringer werden, dann entsteht wieder Vertrauen bei den lieben großen privaten Banken, und dann kaufen sie wieder zinsgünstiger Staatsanleihen auf.   So Ihre Theorie. Das hat mit der Realität allerdings nichts zu tun.

Wie sieht das Ergebnis aus? Das Wirtschaftswachstum in Griechenland ist um 5,5 Prozent gesunken. Fast überall herrscht Rezession. Nun kommt das Entscheidende   schauen wir uns einmal die Schuldenlast Griechenlands an, lieber Herr Brüderle  : Im Jahre 2010 betrugt die Staatsverschuldung Griechenlands 140 Prozent der Wirtschaftsleistung. Nun beträgt sie 200 Prozent der Wirtschaftsleistung. Sie ist also um 60 Prozentpunkte gestiegen. Das ist das Ergebnis Ihres angeblichen Schuldenabbaus. Das Gegenteil kommt dabei heraus, weil der Weg falsch ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie das Vertrauen der großen privaten Banken in die Staaten zurückgewinnen wollen, kann ich Ihnen nur sagen: Auch das schaffen Sie nicht. Die Banken besorgen sich Geld bei der Europäischen Zentralbank und zahlen dafür 1,25 Prozent Zinsen. Dann sagen sie gegenüber Italien: Italienische Staatsanleihen kaufen wir nur, wenn ihr über 7 Prozent Zinsen zahlt.   So verdienen sie dickes Geld und ruinieren die Bevölkerung Italiens. Das alles ist nicht hinnehmbar. Ihr Weg ist rundum und vollständig gescheitert. Aber Sie halten an Ihrem Irrsinnskurs fest.
Herr Kauder, Sie haben gesagt: Der Weg, den wir gehen, ist ein Weg zu einem deutschen Europa.   Außerdem sagten Sie auf dem CDU-Parteitag: Man spricht jetzt deutsch.   Gerade in Anbetracht unserer Geschichte sollten wir solche Sätze wirklich vermeiden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dieser Weg ist politisch, moralisch, historisch, steuerpolitisch und sozial falsch. Außerdem führt das Ganze zu einem dramatischen Demokratieabbau; dazu haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, und auch Sie, Herr Steinmeier, keinen Satz gesagt. Das ist doch nicht mehr hinnehmbar: In Italien und Griechenland werden Technokraten eingesetzt   ohne Wahlen, ohne Veränderung. Man schickt Regierungen, die man nicht mehr haben will, einfach nach Hause und setzt irgendwelche Leute ein, die der EU willkommen sind. Der ehemalige Ministerpräsident Griechenlands sagte zu seiner Bevölkerung, er wolle sie über den Grundkurs der Politik abstimmen bzw. sie in einem Volksentscheid darüber entscheiden lassen. Dafür musste er seine Sachen packen. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. Das ist ein dramatischer Demokratieabbau, den wir hier erleben.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Rüdiger Veit (SPD))

Dieser erste Weg ist also falsch und gescheitert. Aber es gibt einen zweiten Weg; er beschreibt sozusagen das US-amerikanische Vorgehen, aber nicht nur das US-amerikanische, sondern auch das britische. Hier geht es um die Euro-Bonds. Nun habe ich ja gehört, dass die Frau Bundeskanzlerin sagte: Jetzt sind Euro-Bonds falsch.   Sie hat plötzlich das Wort „jetzt“ eingeführt.

(Petra Merkel (Berlin) (SPD): Ja! Das ist eine Rückzugsmöglichkeit!)

Ich bin gespannt, ob das nächste Woche noch gilt.

(Petra Merkel (Berlin) (SPD): Genau! - Zuruf von der LINKEN: Das kennen wir ja! Wie bei der Atomkraft!)

Herr Brüderle hingegen sagt: Das geht überhaupt nicht, weil das Prinzip von Ursache und Wirkung falsch angewandt wird. Wir können doch nicht dafür haften, dass andere Staaten Fehler gemacht haben.   Herr Brüderle, erklären Sie der Bevölkerung doch einmal Folgendes:

(Petra Merkel (Berlin) (SPD): Nein! Lieber nicht!)

Wenn die Europäische Zentralbank jetzt Staatsanleihen aus Italien, Spanien, Griechenland und anderen Ländern im Wert von 200 Milliarden Euro hat, die nichts mehr wert sind, und wenn die Europäische Zentralbank den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern der Euro-Zone, also vornehmlich den deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern, gehört, wer haftet dann für diese Staatsanleihen? Wir alle zusammen. Sie sagen also, dass Sie etwas, das längst existiert, nicht wollen. So kann man die Bevölkerung nicht an der Nase herumführen. Das sage ich Ihnen ganz klar.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die zweite Variante bedeutet natürlich, dass man Geld drucken muss. Sie haben völlig recht: Das war schon immer US-Politik. Das machen die auch heute. Das macht auch Großbritannien. Dieser Weg ist nicht ganz so unsozial und nicht ganz so unmenschlich wie der erste. Aber er führt zu Inflation, also zu Geldentwertung, und damit letztlich auch zu mehr Armut. Deshalb ist auch dieser Weg falsch.

Es gibt einen dritten Weg; das ist der, den wir vorschlagen. Sie fürchten ihn aus verschiedensten Gründen; aber er ist der einzige Weg, der funktionieren könnte. Es passt Ihnen nicht; aber dieser Weg führt aus der Krise, und zwar ohne Deflation und ohne Inflation. Was ist zu tun? Die bedrohten Staaten müssen aus ihrer Abhängigkeit von den großen privaten Banken, Fonds und Versicherungen befreit werden. Das ist der einzig mögliche Weg.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie allerdings geben den Banken ständig nach. Sie erkennen nicht   oder wollen nicht erkennen  , dass der Weg, den wir vorschlagen, die einzige Möglichkeit ist.

Wir brauchen eigentlich eine europäische Bank, die das Geld der Europäischen Zentralbank nehmen und den bedrohten Staaten zinsgünstige Kredite geben müsste. Das wäre deshalb eine Lösung, weil die amerikanischen Ratingagenturen dann machen könnten, was sie wollen. Sie könnten Griechenland sogar ein „Z“ geben   was es nicht gibt  , also komplett herabstufen. Wenn Griechenland von dieser europäischen Bank weiterhin zinsgünstige Kredite bekommt   und Italien, Spanien, Portugal genauso  , könnten die Ratingagenturen erzählen, was sie wollen. Wir hätten dadurch endlich die Unabhängigkeit dieser Staaten von den großen privaten Banken hergestellt, und genau das brauchen wir.

(Beifall bei der LINKEN)

Daneben brauchen wir   das ist wahr   einen Schuldenschnitt, aber nicht nur für Griechenland. Übrigens: Die Banken haben doch einmal etwas von einem Schuldenschnitt von 50 Prozent erzählt. Man hört gar nichts mehr davon, Frau Bundeskanzlerin. Wie weit ist es denn eigentlich damit? Beim letzten Mal war das ein großes Thema, heute sagt keiner ein Wort dazu. Ich will nur sagen: Das fällt auf.

Das alles reicht aber noch nicht. Die großen privaten Banken sind einfach zu mächtig. Frau Kohl, die in der ARD immer über die Börse berichtet und bei Herrn Jauch neben mir saß,

(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erzählen wir jetzt alle unsere Fernseherlebnisse?)

sagte dort interessanterweise Folgendes: Banken wie die Deutsche Bank sind so groß, dass keine Regierung es sich leisten könnte, sie pleitegehen zu lassen, weder eine linke noch eine rechte Regierung. Das sei gar nicht möglich, sagt sie. Was heißt das denn? Das heißt, wir sind erpressbar. Das heißt, die Deutsche Bank kann machen, was sie will. Sie würde immer gerettet werden, ganz egal, ob sich die Regierung rechts oder links nennt oder es auch ist.

(Thomas Oppermann (SPD): Klingt so, als würden Sie sie auch retten!)

  Ja, und genau das ist nicht akzeptabel, Herr Oppermann.   Deshalb muss man diese Banken verkleinern und dann öffentlich-rechtlich gestalten. Es gibt keinen anderen Weg.

(Beifall bei der LINKEN)

„Öffentlich-rechtlich gestalten“ heißt, sie wie die Sparkassen, die ARD oder das ZDF zu gestalten. Das heißt nicht, dass der Finanzminister direkt Weisung geben kann. Eine öffentlich-rechtliche Einrichtung könnte das Ganze sehr viel besser regeln.

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Die Nummer würde Ihnen in der Volkshochschule keiner abnehmen!)

Die Sparkassen sind nicht unser Problem, sondern die großen Privatbanken. Deshalb müssen wir einen anderen Weg gehen. Dann könnten die Banken endlich wieder Dienstleister der Realwirtschaft und der Bürgerinnen und Bürger werden und würden sie nicht mehr beherrschen. Die großen Konzerne, die noch etwas herstellen, also die Realwirtschaft, müssten jetzt eigentlich dazu aufrufen, die Linke zu wählen, weil wir die Einzigen sind, die wollen, dass die Banken ihnen wieder dienen und nicht bestimmen, was sie zu tun haben. Das ist ja immerhin ein Schritt in eine vernünftige Richtung.

(Beifall bei der LINKEN)

Das reicht aber auch noch nicht. Wir müssen natürlich auch eine drastische Regulierung der Finanzmärkte herbeiführen   das gilt auch für öffentlich-rechtliche Banken  , indem wir Hedgefonds, Leerverkäufe etc. verbieten. Ich fand das Interview, das Herr Soros, Multimilliardär und König der Hedgefonds, dem Stern gegeben hat, sehr interessant. Er ist dort gefragt worden, wer eigentlich schuld sei. Das geht auf die Frage der Frau Bundeskanzlerin zurück. Sie haben ja gesagt, die Politik sei schuld. Er hat das auch gesagt, aber er hat das anders begründet. Er wurde gefragt: Sind Sie nicht schuld? Sie haben doch mit Ihren Leuten weltweit spekuliert. Sie haben das doch herbeigeführt.   Er sagte: Ja, das stimmt; aber wir sind trotzdem nicht schuld. Schuld ist die Politik; denn die hat es uns ja erlaubt. Der Mensch ist von Natur aus gierig; dann sind wir halt, wie wir sind. Wenn sie es uns verboten hätten, dann hätten wir es ja nicht gemacht.   Ich finde, das ist das beste Plädoyer dafür, endlich eine Regulierung der Finanzmärkte herbeizuführen.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Gysi!

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich bin gleich fertig, Herr Präsident.

Daneben brauchen wir unbedingt eine Vermögensteuer. Es ist nicht mehr zu akzeptieren, dass die Vermögenden in der Euro-Zone noch nicht einmal mit einem halben Euro zur Finanzierung der Krise herangezogen werden. Lassen Sie mich nur ein Beispiel nennen: 2 000 griechische Familien besitzen 80 Prozent des Vermögens Griechenlands. Die besagte Frau Kohl sagt dazu: Die kann man aber nicht heranziehen, weil sie ihr Vermögen schon ins Ausland gebracht haben.   Abgesehen davon, dass das bei Grundstücken nicht geht, sage ich: Dann führen wir eben US-amerikanisches Recht ein. Jeder Staatsbürger und jede Staatsbürgerin haftet für die Steuern in diesem Land, egal wohin sie das Vermögen verschieben. Das wäre doch nicht zu viel verlangt.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Bofinger, der Wirtschaftsweise der Regierung, hat gesagt: Ihr Weg führt ins Desaster.   Das stimmt, Frau Bundeskanzlerin. Sie müssen den Mut haben, endlich die Unterordnung unter die Banken aufzugeben. Sie müssen den Mut haben, die Banken diesbezüglich zu entmachten. Nur so kann man übrigens einen Markt und etwas Soziales herstellen. Die Priorität der Banken muss endlich überwunden werden. Dann - und nur dann - bekommen wir ein Europa für die Menschen.

(Beifall bei der LINKEN)