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»Frau Merkel hat mit ihrer Entscheidung das Ende ihrer Kanzlerschaft eingeleitet«

Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Aktuellen Stunde zur Atompolitik der Bundesregierung und den aktuellen Castor-Transporten

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Herr Lindner, eine Sternstunde war das nicht, was wir hier mit Ihnen erlebt haben.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Mit Ihnen auch nicht!)

Was in Gorleben passiert, ist etwas gänzlich anderes: Der energiepolitische Irrweg der Bundesregierung stößt auf massiven Widerstand der Bevölkerung. Das wollen Sie einfach nicht zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ihre Atomstrategie scheint zu scheitern. Ich wäre auch sehr dafür, dass das gelingt. Tausende Demonstrantinnen und Demonstranten dort stehen für die Mehrheit der Bevölkerung. Das müssen Sie endlich akzeptieren.

(Christian Lindner (FDP): Die Mehrheit hat gewählt!)

Die Mehrheit der Bevölkerung will Ihren Irrweg nicht.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN   Volker Kauder (CDU/CSU): Mit der Mehrheit der Bevölkerung haben Sie ja Erfahrung, Herr Gysi! Sozialistische Massenbewegung!)

Sie haben mit der Aufkündigung des Kompromisses   darüber haben Sie nicht gesprochen, Herr de Maizière; das haben Sie einfach beiseitegeschoben   einen gesellschaftlichen Großkonflikt heraufbeschworen, und nachdem Sie das gemacht haben, beschweren Sie sich über den Großkonflikt. Das ist für mich auch Heuchelei, um das einmal ganz klar zum Ausdruck zu bringen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Warum haben Sie das gemacht? Sie haben das gemacht, damit Eon, Vattenfall, EnBW und RWE riesige Profite haben. Es gibt keinen anderen Grund.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Die Steigerung von dumm ist wirklich saudumm!)

Für die Profite von vier Konzernen nehmen Sie einen solchen gesellschaftlichen Großkonflikt tatsächlich in Kauf. Was Sie da organisieren, ist überhaupt nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Den über 50 000 Demonstrierenden, Blockierenden und Protestierenden gebührt für ihren Einsatz der Dank des Landes. Das will ich ganz klar sagen und nichts Gegenteiliges.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Castortransport wurde aufgehalten; er hat 92 Stunden gebraucht. Das hat es vorher noch nie gegeben.

(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Toll! Planerfüllung!   Weitere Zurufe)

  Das hat mit „Plan“ gar nichts zu tun. Die Bevölkerung bringt damit zum Ausdruck, dass ihr Ihre Politik nicht gefällt. Darüber beschweren Sie sich. Das ist das, was wir hier erleben.

(Beifall bei der LINKEN)

20 000 Polizistinnen und Polizisten waren eingesetzt. Überwiegend verliefen die Proteste friedlich und gewaltfrei. Dennoch   das hat noch keiner gesagt  : 950 verletzte Demonstrantinnen und Demonstranten. Ich habe gehört: 131 verletzte Polizistinnen und Polizisten, 1 316 Ingewahrsamnahmen, 306 Platzverweise und 172 Strafverfahren. Das ist ein Ergebnis. Es gab aber auch die Verletzung des Grundrechts auf Demonstrations- und Versammlungsfreiheit. Was mich stört, Herr de Maizière: Sie waren nicht dabei, ich war nicht dabei,

(Beatrix Philipp (CDU/CSU): Sie waren auf dem Trecker! Ich habe Sie doch auf dem Trecker gesehen! Sie sind doch Trecker gefahren!)

aber Sie wissen schon jetzt alles und sagen ganz genau, wie es gelaufen ist. Genau das ist nicht zu akzeptieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Die friedliche Nutzung von Kernenergie ist im Unglücksfall nicht beherrschbar. Das wissen Sie. Die Lagerfrage ist weltweit nicht gelöst. Das wissen Sie. Die Bundesregierung hat sich auf Gorleben fixiert. Alternativen wurden nie geprüft. Allerdings   das stimmt  : Auch zwei frühere Umweltminister aus Niedersachsen, nämlich Jürgen Trittin und Sigmar Gabriel, haben niemals nach einem anderen Lager gesucht; das bleibt ein Problem.

(Zurufe von der FDP: Aha!)

Der Kompromiss hätte konsequenter sein müssen. Ein Ausstieg aus dem Ausstieg ist eigentlich nicht möglich. Aber wenn man das so lange verschiebt, dann ist der Ausstieg aus dem Ausstieg doch möglich, und davor hatten wir damals gewarnt. Nur, egal, wie der Kompromiss aussah   das können Sie nicht leugnen, Herr de Maizière  : Es war ein gesellschaftlicher Konsens hergestellt. Die Leute haben sich damit abgefunden. Sie wussten genau, in welchen Fristen der Atomausstieg stattfindet. Und dann machen Sie für vier Konzerne das Ganze wieder auf und provozieren eine solche Auseinandersetzung. Das ist nicht hinnehmbar. Deshalb gibt es diesen Widerstand.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Was Sie auch nicht merken, egal ob es um Gorleben oder Stuttgart 21 geht: Der Abstand zwischen der Regierung und den Regierten nimmt täglich zu. Fragen Sie sich doch einmal, warum! Was passiert denn da? Nehmen Sie das Beispiel Stuttgart 21! Sie sagen: Rechtlich ist alles abgeschlossen.   Das interessiert die Leute nicht. Sie gehen trotzdem hin. Was hat sich im Denken verändert? Es gibt ein rebellisches Denken, weil Sie an den Leuten und an den Mehrheiten in der Gesellschaft immer öfter vorbeiregieren, und zwar im Interesse von bestimmten Lobbyisten. Das bekommen die Leute mit.

(Zurufe von der CDU/CSU)

  Nein, Sie können das alles nicht erklären. Sie können nicht erklären, weshalb wir hier im Bundestag in der Lage sind, innerhalb einer Woche 480 Milliarden Euro für die Banken bereitzustellen, die Frau und der Mann, die sich darum kümmern, dass die Toilette in der Schule repariert wird, aber die Auskunft bekommen, es sei kein Geld da. Das ist den Leuten nicht mehr zu erklären. Ich sage Ihnen: Sie werden an diesen Widersprüchen scheitern.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihre Fehlentscheidung in Bezug auf die Atomenergie wird Konsequenzen haben. Ich bin davon überzeugt: Frau Merkel hat mit ihrer Entscheidung das Ende ihrer Kanzlerschaft eingeleitet.

(Lebhafter Beifall bei der LINKEN - Lachen bei der CDU/CSU und der FDP - Volker Kauder (CDU/CSU): Da muss er selber lachen!)