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Existenzsichernde Arbeitsplätze in ländlichen Räumen sind möglich

Rede von Kirsten Tackmann,

Rede zu den Antragen von CDU/CSU/SPD "Unsere Verantwortung für die ländlichen Räume" (DS 16/5956), der LINKEN "Arbeitgeberzusammenschlüsse zur Stärkung ländlicher Räume" (DS 16/4806), der FDP "EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit im Agrarbereich einführen" (DS 16/6643), dem Fleischgesetzentwurf sowie dem Agrarbericht 2007 der Bundesregierung (DS 16/6964 und 16/4289)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste!

Vor zwei Wochen sendete der Rundfunk Berlin-Brandenburg eine Dokumentation, die viel Staub aufgewirbelt hat: Einmal Westen und zurück. Sie wurde auch in der Prignitz gedreht, wo ich seit mehr als 20 Jahren in einem kleinen Dorf mit etwa 80 Einwohnern lebe. Ich weiß also, wie schwer das Leben in den Dörfern unterdessen geworden ist. Deswegen hat mich die rbb-Dokumentation nicht erschreckt. Ich kenne die Realität.
Ja, man kann natürlich darüber streiten, ob die Situation wirklich so dramatisch ist, wie dort dargestellt. Aber wir sollten aufhören, diese Probleme kleinzureden.
(Beifall bei der LINKEN)
In zweimal 45 Minuten war zu erleben, was die Worte „Die ländlichen Räume stehen auf der Kippe“ wirklich bedeuten. Das war nämlich in etwa die Aussage der Studie des Berlin-Instituts für den Brandenburger Landtag aus dem Sommer, die Minister Seehofer zitiert hat. Angesichts dieser Situation darf sich Agrarpolitik nicht auf Landwirtschaftspolitik reduzieren, sie muss Strukturpolitik für die ländlichen Räume sein.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Studie des Berlin-Instituts spricht von zwei Entscheidungsoptionen, die die Politik nach Ansicht der Wissenschaftler zeitnah hat. Erste Option, Herr Seehofer: sofortiges Umsteuern, kein Weitermachen. Im Gutachten werden Beispiele genannt, wie man vorgehen könnte, zum Beispiel selbstverwaltete Zwergenschulen in Schweden, Polikliniken in Lappland die gab es also nicht nur in der DDR , selbstverwaltete Mikroregionen in Mexiko, Zukunftsräte in der Schweiz, Dorfmobil-Projekte in Österreich. Was diesen Projekten zugrunde liegt, ist ein völlig anderes Denken des ländlichen Raums. In Schweden ist es zum Beispiel politisches Ziel, die Besiedlung der Inseln vor Stockholm zu erhalten. Natürlich weiß auch die schwedische Regierung, dass dazu gehört, dass man dort die öffentliche Daseinsvorsorge sichert. So etwas geht, wenn man die Interessen der Menschen höher bewertet und nicht immer nur über Kosten diskutiert.
Wenn in der Bundespolitik dieses Umdenken nicht endlich einsetzt, dann, so das Berlin-Institut weiter, bleibt nur eine zweite Option diese hat Minister Seehofer schon genannt , die gezielte Entsiedlung, zum Beispiel mit einer Wegzugsprämie. Die Brandenburger Landesregierung hat ähnlich wie Minister Seehofer aufs Schärfste protestiert. Das ist aber angesichts der tatsächlichen Politik der Bundes- und Landesregierung scheinheilig.
(Beifall bei der LINKEN)
Warum ziehen denn die Menschen aus den ländlichen Regionen weg? Sie tun es, weil sie meistens mit den Problemen alleine gelassen werden. Fatalerweise erfolgt der Wegzug eben nicht ganz allgemein, sondern sozial- und geschlechtsselektiv. Es gehen vor allen Dingen junge, kluge Frauen, weil sich gerade ihre Lebensbedingungen in den Dörfern deutlich verschlechtern. Das zeigt auch die aktuelle Studie „Gleichstellung im ländlichen Raum“, die im Auftrag meiner Fraktion gerade erstellt wurde.
Natürlich ist es gut, wenn die Jugend in die Welt hinauszieht; das hat noch niemandem geschadet. Schlimm ist nur, dass viele junge Leute selbst dann nicht zurückkommen können, wenn sie es wollen. Woran liegt das? Es fehlen Ausbildungsplätze, Bus- und Bahnverbindungen, Sparkassen- und Postfilialen, Fachärzte sowie soziale und kulturelle Bildungsangebote. Selbst Behördengänge werden zu Tagesreisen. Kurz: Die Organisation des Alltags ist in den ländlichen Räumen unterdessen sehr schwierig geworden, vor allen Dingen für Ältere und Alleinerziehende. Klar, die Finanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge überfordert die ohnehin überschuldeten Haushalte in den ländlichen Gemeinden. Daher muss es aus meiner Sicht einen Solidarausgleich zwischen Stadt und Land geben. Das ist sozial gerecht; denn die Städter und Städterinnen nutzen den ländlichen Raum durchaus als Erholungsraum.
Es bröckelt aber nicht nur die Infrastruktur. Am dringendsten fehlt in den ländlichen Räumen existenzsichernde, bezahlte Arbeit. Das hat auch mit politischen Fehlentscheidungen zu tun, auch auf Bundesebene. Wer das Bombodrom in der Kyritz-Ruppiner Heide nutzen will, zerstört 15 000 bis 18 000 Arbeitsplätze in dieser Region und dazu alle Zukunftspotenziale, die sie hat.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wer bei den kleinen Biokraftstofferzeugern mit Strafsteuern Gewinne abschöpfen will, die es gar nicht gibt, vernichtet Arbeitsplätze im ländlichen Raum.
(Beifall der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP))
Wer die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht, entzieht Kaufkraft, die zum Beispiel den regionalen Dienstleistungsanbietern fehlt. Im Landkreis Prignitz, in dem ich wohne, lag die Kaufkraft 2005 mit rund 6 000 Euro deutlich unter dem bundesweiten Durchschnitt von rund 8 500 Euro. Das war Platz 428 von bundesweit 439 Landkreisen. Wer Regionalisierungsmittel kürzt, ist mitverantwortlich für die Stilllegung von Bahnlinien. Wer eine Steuerpolitik im Interesse des Großkapitals und der Reichen macht, ist mitverantwortlich für die desolaten Kommunalhaushalte, also auch für den Ausfall der Kommunen als Arbeit- oder Auftraggeber.
(Beifall bei der LINKEN)
Wer die Telekommunikation privatisiert, ist mitverantwortlich für die mangelnde Versorgung mit Breitbandanschlüssen. Gesellschaftliche Interessen und Gewinnmaximierung sind heute oft nicht miteinander zu vereinbaren. Dabei bleiben auch Einkommenschancen gerade für Frauen in den ländlichen Räumen auf der Strecke. Norwegen hat übrigens zum Jahresende eine flächendeckende Breitbandversorgung bis zum Polarkreis angekündigt.
(Ulrich Kelber (SPD): Woraus finanzieren die das?)
Gerade weil es auch politische Gründe für die schwierige Situation in den Dörfern gibt, sagt die Linke: Das muss nicht so bleiben. Das darf auch nicht so bleiben.
(Beifall bei der LINKEN)
Weder Bevölkerungsschwund noch Verarmungstendenzen sind Naturgesetze. Beides sind Folgen falscher Politik. Die Linke schlägt zum Beispiel seit Jahren eine Ausbildungsplatzabgabe vor. Gerade der Ausbildungsplatzmangel treibt junge Leute aus den ländlichen Räumen. Wir streiten für kluge Konzepte für einen bürgernahen und bezahlbaren öffentlichen Personennahverkehr. Wir wollen die Förderung einer dezentralen Biokraftstoffversorgung ohne Strafsteuer und Beimischungszwang. Busse und Bahnen sollten auf jeden Fall regional erzeugte Biokraftstoffe steuerfrei tanken können.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir brauchen öffentlich geförderte Beschäftigung. In Berlin schafft der rot-rote Senat damit gerade 10 000 Arbeitsplätze. Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,44 Euro. Auch das stärkt die regionale Nachfrage.
(Beifall bei der LINKEN)
Es gibt zwei akute Bedrohungen für die ostdeutsche Landwirtschaft. Die erste Bedrohung ist die geplante Streichung von mehreren 100 Millionen Euro aus Brüssel. Betroffen wären mehr als 5 000 Agarbetriebe, davon über 90 Prozent in Ostdeutschland. Das muss verhindert werden. Die zweite Bedrohung sind Bodenspekulationen, auch durch die Verkaufspraxis der BVVG. Hier muss dringend eingegriffen werden, und zwar durch die konsequente Anwendung des Grundstückverkehrsgesetzes und durch Überprüfung der Vergabepraxis der BVVG.
Alles das wären aus unserer Sicht erste wichtige Schritte hin zu Dörfern mit Zukunft. Meine Fraktion beteiligt sich an dem Kreativwettbewerb um die besten Ideen mit einem eigenen Antrag. Wir greifen darin ein sehr wichtiges Thema auf, nämlich die Tendenz, dass in den Dörfern immer häufiger Arbeit nur zeitweise oder saisonal verfügbar ist. Die Linke will, dass die Arbeit so organisiert wird, dass daraus existenzsichernde Arbeitsplätze werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Frankreich hat hier gute Vorarbeit geleistet. In sogenannten Arbeitgeberzusammenschlüssen bilden verschiedene Betriebe gemeinsame Pools an qualifizierten Arbeitskräften. Die Angestellten des Arbeitgeberzusammenschlusses wechseln dann je nach Bedarf von einem Betrieb zum nächsten. Das funktioniert ähnlich einem Maschinenring: Dort nutzen Bauern gemeinsam einen Traktor. Das geht auch beim Personal, wie das Beispiel Frankreich zeigt. Aktuell gibt es in Frankreich 4 100 Arbeitgeberzusammenschlüsse, in denen ungefähr 40 000 Menschen Lohn und Brot finden.
Die Vorteile für die Mitgliedsbetriebe sind vielfältig: Sie können über ein flexibles, bedarfsorientiertes, erfahrenes und qualifiziertes Personal verfügen das ist angesichts des drohenden Fachkräftemangels ein schwerwiegender Vorteil ; das professionelle Personalmanagement spart Geld; durch Aus- und Fortbildung sowie Qualifizierung können arbeitsarme Zeiten überbrückt werden. Auch das organisiert der Arbeitgeberzusammenschluss.
Was haben die Beschäftigten davon? Ihre Vorteile sind auch ganz klar: Im Gegensatz zu Saisonarbeitskräften sind sie ganzjährig und vor allen Dingen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sie haben eine abwechslungsreiche Tätigkeit. Die integrierte Qualifizierung verbessert ihre Arbeitsplatzchancen, auch außerhalb des Arbeitgeberzusammenschlusses. Ein Arbeitgeberzusammenschluss sichert und verstetigt also unsichere Arbeitsverhältnisse. Das unterscheidet ihn ganz klar von der modernen Sklaverei in vielen Leiharbeitsfirmen.
(Beifall bei der LINKEN)
Mehr noch: Er schafft sogar existenzsichernde Arbeitsplätze, zum Beispiel im Pilotprojekt der Spreewald-Forum GmbH. Hier sollten mit Landesförderung die Übertragbarkeit der französischen Erfahrungen unter einheimischen Bedingungen geprüft und die Gründung eines ersten Arbeitgeberzusammenschlusses begleitet werden. Zunächst haben sich dort sieben Betriebe zusammengeschlossen, vor allen Dingen Landwirtschafts- und Landschaftsbaubetriebe, aber auch eine Autoverwertung. Unterdessen sind es 15 Mitgliedsbetriebe, und 20 Arbeitsplätze sind geschaffen worden.
In Potsdam-Mittelmark wird gerade die Gründung eines weiteren Arbeitgeberzusammenschlusses für März vorbereitet. Hervorgegangen ist dieser übrigens das ist ganz wichtig aus einem erfolgreichen Potsdamer Betreuungsprojekt, Agrotime, für einheimische Erntehelfer. Unterdessen denken auch sie, dass ein Arbeitgeberzusammenschluss ein deutlich besserer Weg ist.
Um eines klar zu sagen: Arbeitgeberzusammenschlüsse lösen keine arbeitsmarktpolitischen Probleme zumindest nicht vordergründig , sondern sie lösen Probleme kleiner Unternehmen. Auf jeden Fall sind sie ein sinnvollerer Beitrag als die FDP-Forderung nach billigen Saisonarbeitskräften.
(Beifall bei der LINKEN)
Arbeitgeberzusammenschlüsse haben also viele Gewinner: die Betriebe, die Beschäftigten und die Gesellschaft; denn dadurch können Menschen aus der Arbeitslosigkeit oder aus der Perspektivlosigkeit herausgeholt werden. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns doch einfach einmal französisch denken.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der LINKEN)