Zum Hauptinhalt springen

Europaweite Mindeststandards für Beschäftigte statt Sozial- und Lohndumping

Rede von Sevim Dagdelen,

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Dagdelen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. zum Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer saisonalen Beschäftigung (KOM(2010)379; Ratsdok.-Nr.: 12208/10 "Vorschlag der Europäischen Kommission zur Saisonarbeiterrichtlinie zurückweisen" (BT-Drs. 17/4045 )

Im Jahr 2009 waren in Deutschland 1.835 Saisonbeschäftigte in den Bereichen Landwirtschaft/Gartenbau und Gastgewerbe aus den Beitrittsländern Bulgarien, Rumänien, Polen, Slowenien, Ungarn, der Slowakischen und Tschechischen Republik tätig. Aus dem Nicht-EU-Land Kroatien waren es im selben Jahr 4.248 Saisonbeschäftigte – also mehr als doppelt so viele. Insgesamt ca. 6.000. Jedes Jahr arbeiten über 100.000 Saisonbeschäftigte aus Drittstaaten in der EU. Um sie geht es in dem Vorschlag für eine Richtlinie zur saisonalen Beschäftigung – der Saisonarbeiterrichtlinie, den die Kommission am 13. Juli 2010 vorgelegt hat. Sie ist Teil der 2005 initiierten „Strategie zur legalen Zuwanderung“, die auch im Stockholmer Programm aufgegriffen wird.

Diese Strategie umfasst eine allgemeine Rahmenrichtlinie. Diese Rahmenrichtlinie besteht aus vier Richtlinien. Alle vier sollen die Einreise und den Aufenthalt bestimmter Kategorien von Drittstaatsangehörigen regeln. Eine der vier Richtlinien beschäftigt sich mit den Saisonbeschäftigten. Eine andere mit konzernintern Entsandten. Beide Richtlinien wurden gleichzeitig vorgelegt. Eine dritte Richtlinie befasst sich im Rahmen der „EU Blue Card“ mit Hochqualifizierten. Sie wurde 2009 angenommen. Die vierte Richtlinie ist mit bezahlten Auszubildenden befasst, wurde aber noch nicht als Vorschlag vorgelegt.

Da Saisonbeschäftigte von der allgemeinen Rahmenrichtlinie und der „Blue Card“ ausgenommen sind, soll die saisonale Beschäftigung in einer eigenen Richtlinie geregelt werden. Der Entwurf zur Saisonarbeiterrichtlinie sollte eigentlich schon Ende 2008 vorgelegt werden, wurde aber wegen berechtigter Proteste von Gewerkschaften verschoben. Doch anstelle substantieller Verbesserungen für Saisonbeschäftigte bleibt der vorliegende Richtlinienentwurf bei seiner einseitigen Konzentration auf die Interessenslage der Wirtschaft.

Allen vier Richtlinien gemein ist, dass sie ein und derselben Grundlogik folgen, „nützliche Migration“ in die EU zu befördern. Und das in mehrfacher Hinsicht. Mit dem im Richtlinienentwurf diskutierten Arbeitskräftemangel und der damit verbundenen Forderung nach einer „zirkulären Migration“ werden einseitig Interessen und Bedürfnisse der Wirtschaft und des Kapitals bedient. Dabei ist die Bereitschaft von Unionsbürgerinnen und –bürgern zur Saisonarbeit bei gerechter Bezahlung groß und der Bedarf könnte wegen der hohen Erwerbslosigkeit in der Europäischen Union so auch gedeckt werden. Doch darum geht es offensichtlich nicht. Es geht hier vielmehr um die Möglichkeit, die Forderungen nach gerechter Bezahlung zu unterlaufen. Der Arbeitsmarkt soll ein Nachfragemarkt sein. Denn je mehr potenzielle Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, desto weniger müssen sich die Unternehmen hinsichtlich ihrer Lohnpolitik und der Arbeitsrechte bewegen. Und die Beschäftigten können besser gegeneinander ausgespielt werden. DIE LINKE will mit der Unterstützung der Gewerkschaften eine Lohnspirale nach unten im Interesse der ausländischen wie der inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verhindern. DIE LINKE ist für Mindeststandards für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ob sie nun aus Deutschland kommen oder aus Europa oder aus Drittstaaten. Es muss endlich dafür gesorgt werden, dass unter gleichen Arbeitsbedingungen am gleichen Ort und für die gleiche Arbeit auch der gleiche Lohn gezahlt wird. Deshalb wollen wir einen gesetzlichen Mindestlohn, damit Beschäftigte nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden können.

Denn besonders gravierend wird sich die Richtlinie in der Bundesrepublik Deutschland und anderen Ländern auswirken, die keinen gesetzlichen Mindestlohn oder kein System der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen besitzen. So kann für Saisonbeschäftigte die Einhaltung von Tarifbestimmungen nur vorgeschrieben werden, wenn es sich um gesetzliche Mindestlöhne oder bundesweit allgemeinverbindliche Tarifverträge handelt. Für Branchen ohne bundesweit allgemeinverbindliche Tarifverträge oder gesetzliche Mindestlöhne - in Deutschland z.B. die Landwirtschaft - können so keine Lohnuntergrenzen für Saisonbeschäftigte mehr festgesetzt werden. Damit drohen Hungerlöhne und massive Verwerfungen auf den EU-Arbeitsmärkten. Dass bei den Rechten für Saisonbeschäftigte weder das Streik-, noch das Versammlungsrecht oder das Recht auf Meinungsfreiheit genannt werden, schließt diese zwar nicht aus, lässt aber tief blicken – schließlich haben in den letzten Jahren immer wieder Saisonbeschäftigte gegen besonders ausbeuterische Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gekämpft.

Der Richtlinienentwurf beruht auf dem Konzept „zirkulärer Migration“, nach dem die Beschäftigten immer wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren müssen. Eine Aufenthaltsverfestigung ist ausgeschlossen. Für die maximal 6 Monate Aufenthaltsdauer bleibt den Beschäftigten das Recht auf Mitnahme oder Besuch von Familienangehörigen versagt. Eine Integration der Arbeitskräfte ist ausdrücklich nicht erwünscht. Wer der Verpflichtung zur Rückkehr nicht nachkommt, wird für eine gewisse Zeit von der Zulassung als Saisonarbeitskraft ausgeschlossen. Die Rechte von Saisonbeschäftigten aus Drittstaaten sind mangelhaft ausgestaltet, so dass nahezu kein Schutz gegenüber dem durchschlagenden Profitinteresse von Unternehmen entsteht, die Saisonarbeitskräfte beschäftigen. Doch das ist der Bundesregierung egal, wie ihre Antwort auf die Kleine Anfrage meines Kollegen Alexander Ulrich – Bundestagsdrucksache 17/3561 – deutlich gezeigt hat. Eine Verankerung des Rechts auf Streik, Meinungs- und Versammlungsfreiheit in der Richtlinie hält die Bundesregierung ebenso für entbehrlich wie das Recht auf Familiennachzug. Bezüglich der Einbeziehung in die Sozialversicherungen möchte die Bundesregierung – laut ihrer Antwort – eine „unangemessene Belastung der sozialen Sicherungssysteme“ vermeiden, wenngleich die „Belange der Saisonarbeitnehmer angemessen“ zu wahren seien.
DIE LINKE lehnt das Konzept „zirkulärer Migration“ ab, die nun unter europäischer Flagge die falsche deutsche Gastarbeiterpolitik der 50er Jahre europaweit etabliert. Denn in zwanzig Jahren wird man dann wieder Krokodilstränen vergießen, dass man Arbeitskräfte rief, aber Menschen kamen. Wo doch alle Erfahrungen zeigen, dass das Gastarbeitermodell die Integration geradezu verhindert und den Nützlichkeitsrassismus befördert. Wir dagegen setzen auf den Schutz von Menschen in Not und auf die Etablierung einer sozialen Integrationspolitik sowohl in den Mitgliedstaaten als auch auf der europäischen Ebene.

Die Unternehmen dagegen müssen laut Entwurf kaum etwas befürchten. Bei Verstößen des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin gegen die Rechte der Saisonbeschäftigten sind die Mitgliedstaaten nicht berechtigt Sanktionen zu verhängen. Bei Verstößen gegen den Arbeitsvertrag ist lediglich ein befristeter Ausschluss von Genehmigungen vorgesehen. Im Falle einer Täuschung der Behörden durch die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sieht der Entwurf nicht einmal vor, dass diese die Reisekosten für die Saisonbeschäftigten tragen. Dieses El Dorado für Unternehmen lehnt DIE LINKE entschieden ab.

Die Saisonarbeiterrichtlinie wird getragen vom Nützlichkeitsrassismus, der nicht die Rechte von Migrantinnen und Migranten stärkt, sondern lediglich den Nützlichkeitswert von Migrantinnen und Migranten für Unternehmen in den Mittelpunkt rückt. Gleichzeitig wird die Situation aller Beschäftigten in den betroffenen Branchen deutlich verschlechtert und die Migrantinnen und Migranten als Sündenböcke für Sozial- und Lohndumping instrumentalisiert. Dadurch, dass besonders restriktive Regelungen auch noch Gesetzeskraft in Deutschland erlangen sollen und die Bereiche der Saisonarbeit auch noch ausgeweitet werden können, besteht die Gefahr einer weiteren Absenkung von rechtlichen Standards für Migrantinnen und Migranten. Das ist im Lichte der Thesen des Hobbygenetikers und SPD-Mitglieds, Thilo Sarrazin, nichts weiter als die Fortführung einer neoliberalen Politik, dessen Kern es ist, Menschen nach ihrem ökonomischen Wert zu bemessen. Wenn das nicht menschenverachtend ist, was dann?

DIE LINKE fordert die Bundesregierung deshalb auf, den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer saisonalen Beschäftigung (KOM(2010)379) abzulehnen. Die Bundesregierung ist aufgefordert, sich statt dessen aktiv für einen rechtlichen Rahmen einzusetzen, der den sozialen und arbeitsrechtlichen Schutz für Saisonbeschäftigte stärkt, indem er soziale Mindeststandards für die Saisonbeschäftigten in der EU festlegt. In diesem Zusammenhang ist die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns unerlässlich. Es muss endlich dafür gesorgt werden, dass unter gleichen Arbeitsbedingungen am gleichen Ort und für die gleiche Arbeit auch der gleiche Lohn gezahlt wird. Dieser Mindestlohn muss die allgemeine Untergrenze der Entlohnung für alle Beschäftigten, auch im Rahmen von Entsende-Arbeit sein. Anstelle von Sozial- und Lohndumping will DIE LINKE, dass sich die Bundesregierung im Rat der EU dafür einsetzt, dass entsprechend der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 09.10.2008 (2008/2034(INI)) die Europäische Union eine Zielvorgabe zum Niveau von Mindestlöhnen in Höhe von mindestens 60 Prozent des nationalen Durchschnittslohns vereinbart, nebst eines verbindlichen Zeitplans zur Einhaltung dieser Vorgabe in allen Mitgliedstaaten.

Um dies noch einmal ganz deutlich zu sagen: DIE LINKE. befürwortet sehr wohl, dass Menschen in die Bundesrepublik kommen können. Auch, um hier zu arbeiten. Wir lassen aber nicht zu, dass Hochqualifizierte gegen geringqualifizierte Arbeitsmigrantinnen und -migranten, Arbeitsmigrantinnen und -migranten gegen Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlinge gegen „Deutsche", Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger gegen Arbeitslose, Frauen gegen Männer, Ossis gegen Wessis, Kinderlose gegen Eltern bzw. Familien, Alt gegen Jung ausgespielt wurden.
Wir wollen aber verhindern, dass im Interesse der deutschen Wirtschaft billige, flexible und vor allem fügsame Arbeitsmigrantinnen und -migranten gesichert, die Niedriglohnjobs ausgeweitet und die Konkurrenz zwischen Migrantinnen und Migranten mit den ansässigen Einwohnerinnen und Einwohnern verschärft werden. DIE LINKE ist für die Solidarität unter den Beschäftigten unterschiedlicher Länder, die von denselben Konzernen und vom gleichen Kapital ausgebeutet und ausgeplündert werden. Deshalb fordert DIE LINKE für die Menschen Arbeit, die ein Auskommen garantiert, und gleiche Rechte für alle.