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Europäischer Forschungsraum

Rede von Petra Sitte,

Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kooperation und Koordination im Europäischen Forschungsraum verbessern

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit dem sogenannten Millenniumsgipfel im März des Jahres 2000 in Lissabon werden in der Europäischen Union Wissenschaft, Forschung und Entwicklung sowie Wissenstransfer über einen gemeinsamen Nenner definiert und strukturiert. Bis 2010 soll der ”wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt” entstehen. Alles, was nicht die-ser Zielstellung dient, ist nachrangig und wird auch so behandelt.

Die Linke hat diesen kon-zeptionellen Ansatz bereits mehrfach als einseitig kritisiert. Im Mittelpunkt dieses maßgeblich aus öffentlichen Mitteln gespeisten Forschungsförderrah-mens, dessen Bestandteile das rund 50 Milliarden Euro schwere 7. Forschungsrahmenprogramm (FP7) und die Schaffung eines Europäischen Forschungsraums sind, steht nahezu aus-schließlich wirtschaftliches Verwertungsinteresse. Welche Forschung eine Gesellschaft braucht, um Menschen bessere Lebens- und Beschäftigungsbedingungen zu sichern und damit auch als Gesellschaft zivilisatorischen und kulturellen Fortschritt zu erhalten, taucht immer nur dann auf, wenn es Schnittmengen mit wirtschaftlichen Interessen gibt. Dabei muss gerade Forschung wesentliche Beiträge leisten, wie man langfristig den großen globalen Konflikten und Herausforderungen sowie gesellschaftlichen Widersprüchen begegnen könnte. Eine entsprechende öffentliche Forschungsförderung sollte sich diesem Anspruch selbstbe-wusst stellen.

Die ”Freiheit von Forschung und Lehre” muss im Mittelpunkt stehen und nicht die Ausrichtung auf Themen, die sich ökonomisch verwerten lassen. So melden sich gegen-wärtig mehr und mehr Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort; die diese Entwick-lung kritisieren. Sie wenden sich ausdrücklich gegen eine Ökonomisierung der Wissenschafts-landschaft und gegen das Konzept, sich bei der Hochschulsteuerung an Unternehmen zu orientieren.

Das Grünbuch ”Der Europäische Forschungsraum: Neue Perspektiven” und der zuständige EU-Kommissar für Wissenschaft und Forschung, Jan Potocnik, stehen allerdings ganz klar für die in Lissabon definierte Grundausrichtung, einen europäischen Binnenmarkt für die Forschung zu schaffen. Die Linke hält diese strategische Ausrichtung für einen gravierenden Fehler. Daraus leitet sich ab, und das kritisieren wir Linke gleichermaßen, dass sich europäische Forschungs- und Technologieförderung vor allem aus einem Block- und Konkurrenzdenken gegen andere Wissenschafts- und Technologieregionen und -mächte definiert.

Häufig genannt werden in diesem Zusammenhang die USA oder die aufholenden Asiaten wie China oder Indien. Ein kooperativer globaler Ansatz wird ausdrücklich nicht verfolgt. Es geht in jedem Falle um einen maximalen Mehrwert für die europäische Wirtschaft. So ist es wenig verwunderlich, wenn die Optimierung der Forschungsprioritäten - beispielsweise bei den im 7. Forschungsrahmenprogramm geförderten gemeinsamen Technologieplattformen - den Schwerpunkt auf Themen legt, die sich aus den Interessen der Industrie ergeben. Dazu gehören unter anderem die ”Technologieinitiative Clean Sky” oder auch ARTEMIS - die ”Technologieinitiative für eingebettete IKT-Systeme”.

Die EU lässt sich mit ”Clean Sky” die Luft- und Raumfahrtforschung in den nächsten Jahren rund 800 Millionen Euro kosten; die eingebetteten Computersysteme werden von der öffentlichen Hand mit rund 420 Millionen Euro subventioniert. Alle Technologieinitiativen werden aber von Unternehmen geleitet. Auch die Entwicklung und Stärkung von Forschungseinrichtungen richtet sich vorrangig nach ihrer thematischen, materiellen, personellen und finanziellen Dienstleistungsfunktion gegenüber der Industrie und dem daraus abgeleiteten spezifischen Bedarf an Wissenstransfer. Ein Beispiel dazu: Zum Fahrplan des Europäischen Strategieforums zu Forschungsinfrastrukturen, ESFRI, gehört das Projekt IFMIF, International Fusion Material Irradiation Facility. Es soll Materialforschung für zukünftige Fusionsreaktoren, sprich nukleare Energieforschung, betreiben. Erwartete Kosten: Rund 850 Millionen Euro.

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass es zwangsläufig zu einer dramatischen Ausblendung von Themen aus dem geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Bereich kommen muss. Diese Wissenschaftsdisziplinen werden häufig auf Akzeptanzforschung zur Einführung und Umsetzung von umstrittenen Technologien reduziert. So stellt das Sicherheitsforschungsprogramm die Entwicklung von Detektionstechnologien zur Bekämpfung von Terrorangriffen in den Vordergrund. Ängste vor einem aufgeweichten Datenschutz oder eingeschränkten Bürgerrechten werden hier als zu überwindende Hürden definiert, für die Konzepte zum ”Dialog mit den Bürgern” präsentiert werden sollen.

Dass Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften in der europäischen Forschungsförderung ins Hintertreffen geraten ist zumindest insoweit widersprüchlich, als die Kommission zwischen April und August 2007 ausgesprochen interessante Handlungsrichtlinien veröffentlicht hat, die auf ethische Spannungsfelder in verschiedenen Forschungsfeldern Bezug nehmen. Vor diesem Hintergrund hält es die Linke für notwendig, eine eigenständige und unabhängige Forschungskritik zu entwickeln und diese Risikobegleitforschung auch angemessen zu finanzieren. Die Linke kann die Europäische Kommission daher nur nachdrücklich auffordern, die eigene Position umzusetzen und sowohl in der Spitze als auch der Breite der Systeme zu fördern. Auch die Einbindung von gesellschaftlichen Akteuren bei der Auswahl forschungspolitischer Schwerpunkte muss offensiver verfolgt werden. Bisher werden in der Europäischen Gemein-schaft partizipative Verfahren nur am Rande aufgeworfen. Sieht man einmal von der Grundkritik an der Ausrichtung des europäischen Forschungsraumes ab, wirft das Grünbuch aber auch wichtige und richtige Probleme auf. Dazu gehören unzureichende Forschungsinvestitionen, die Fragmentierung der Forschung, die Kritik an den Mobilitätshindernissen für Forscher und Forscherinnen, ihre schlechten Arbeitsbedingungen und sehr begrenzten Laufbahnaussichten sowie nicht zuletzt die Unterrepräsentanz von Frauen in der Wissenschaft.

Vergleicht man nun diese Überlegungen aus dem Grünbuch mit der nationalen Forschungs-förderung in Deutschland, dann zeigt sich eine ganze Reihe von Widersprüchen. Offensichtlich versuchen punktuell nicht nur 16 Bundesländer Alleinstellungsmerkmale gegen das EU-Konzept zu realisieren, sondern auch die Forschungspolitik der Bundesregierung erschwert unnötig eine Harmonisierung der Forschungsbedingungen in Europa. Das zeigen zum Beispiel die Föderalismusreform, die angekündigte Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes, das Wissenschaftszeitvertragsgesetz und das jüngst von der Kanzlerin gelobte Wissenschaftsfreiheitsgesetz, das im kommenden Frühjahr das Licht der Welt erblicken soll. Doch eine leistungsfähige Forschung wird in Deutschland und Europa auf lange Sicht nur zu sichern sein, wenn den Beschäftigten nicht nur Mitsprache in betrieblichen, sondern auch in wissenschaftlichen Fragen eingeräumt wird.

Rechtliche Mindeststandards sollten im Rahmen eines sektoralen sozialen Dialogs europaweit fixiert werden. Die Linke unterstützt daher alle Forderungen, die die ”Empfehlungen der Europäischen Kommission zur Charta für Forscher und einen Verhaltenscodex für die Einstellung von Forschern” aus dem Jahre 2005 als ver-bindliche Grundlage bestimmen wollen. Die Bundesregierung sollte mit den Bundesländern vereinbaren, das attraktivere Nachwuchs-modell der EU umzusetzen und damit die Promotion durchgängig als erste Phase wissen-schaftlichen Arbeitens anzuerkennen. Deutsche Sonderwege auf nationaler, bundesstaatlicher und hochschul- bzw. wissenschaftseinrichtungsbezogener Ebene erschweren zusätzlich die Begründung transparenter und attraktiver Beschäftigungsbedingungen für alle beteiligten Be-schäftigungsgruppen - nicht nur für Spitzenwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen. Diese sind ohne Engagement ihrer Mitarbeiter gar nicht in der Lage, Spitzenforschung zu realisie-ren. Die Linke betrachtet es zudem als entscheidenden Rückschritt, dass innerhalb des 7. Forschungsrahmenprogramms kein Gender-Action-Plan integriert wurde. Diesbezüglich ist einges in Deutschland im letzten Jahr positiv in Bewegung gekommen, gerade bei den großen Forschungsorganisationen.

Die Bundesregierung sollte daher die verbindliche Erfüllung von Gleichstellungskriterien an die Vergabe von Forschungsmitteln knüpfen. Abschließend sei betont: Die Linke hält das Grünbuch für eine wichtige Chance, europäische Forschungsförderung kritisch zu überprüfen. Lassen Sie uns nun endlich die Weichen für eine verbesserte Forschungspolitik und damit für künftige Rahmenprogramme der EU stellen.