Zum Hauptinhalt springen

Einsparzwang und Beratungsresistenz der Koalition

Rede von Jens Petermann,

139. Sitzung des Deutschen Bundestages, 10. November 2011
TOP 18: Entwurf eines Gesetzes über die Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern in der Hauptverhandlung
Drucksache 17/6905, 17/7276
Fraktion DIE LINKE
Jens Petermann - Rede zu Protokoll

Sehr geehrte(r) Herr/Frau Präsident(in), meine sehr verehrten Damen und Herren,
wir begrüßen den Versuch, die Notlösung im § 76 Absatz zwei Gerichtsverfassungsgesetz nicht nochmals zu verlängern. Man sollte sie aber einfach am 31. Dezember auslaufen lassen und nicht wie geplant zur Regel machen.
Deshalb kann ich zum wiederholten Mal den Einbringern kritische Hinweise nicht ersparen. Die Bedenken gegen das Vorhaben wurden bereits in einem erweiterten Berichterstattergespräch vorgetragen, haben jedoch bei der Koalition nicht zu einer Neubewertung geführt – leider läuft das der Absicht zuwider, den Gesetzentwurf nach Anhörung von Sachverständigen sachlich zu verbessern. Es nützt nichts Sachverständige einzuladen, wenn man nicht bereit ist, ihre Argumente zu hören.
Worum geht es genau? Nach Herstellung der deutschen Einheit wuchs der Bedarf an Richterinnen, Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten im Beitrittsgebiet kurzfristig stark an. Deshalb entschied sich der Gesetzgeber im Jahre 1993 für eine vorübergehende Notlösung. Er erlaubte befristet bis zum 28. Februar 1998 den Großen Strafkammern an den Landgerichten selbst über ihre Besetzung mit zwei oder drei Berufsrichtern zu entscheiden. Man ging davon aus, dass nach fünf Jahren genügend geeignete Juristinnen und Juristen zur Verfügung stünden, was tatsächlich auch der Fall war. Doch heute bleibt die Zahl der offenen Stellen in der Justiz weit hinter der Zahl bestens geeigneter Juristinnen und Juristen zurück. Die Geschäftsgrundlage für die damalige Sonderregelung, nämlich der Mangel an geeigneten Fachkräften, ist also längst entfallen.
Es drängt sich damit die Frage auf, aus welchen Motiven bei der Besetzung der großen Straf- und Jugendkammern weiterhin ein Sonderrecht gelten soll.
Eine naheliegende Antwort lautet: Kosteneinsparung in der Justiz. Durch die Notlösung wurden in jedem Bundesland – also auch in den alten Bundesländern – mindestens fünf bis zehn Richterstellen eingespart. Das hat die Finanzminister der Länder offenbar so sehr gefreut, dass dieser Einspareffekt nun festgeschrieben werden soll. Damit wird nicht nur die viele Arbeit auf weniger Köpfe verteilt, es wird auch leichtfertig mit der Qualität des Strafprozesses gespielt.
Der Einspareffekt hat in der Erwägung der Bundesregierung, den heute zu debattierenden Gesetzentwurf vorzulegen, wohl eine wichtige Rolle gespielt. Zwar fordert der Justizminister der schwarz-gelben Regierung in Schleswig-Holstein für die großen Jugendkammern eine grundsätzliche Besetzung mit drei Berufsrichtern. In einem Antrag für die Bundesratssitzung argumentiert er mit Qualitätssicherung, der großen Bedeutung von Jugendverfahren und fordert einen hohen Standard in Strafverfahren vor einer Jugendkammer. Allerdings scheint er mit dieser Position noch allein zu stehen.
Der Gesetzentwurf selbst wählt eine unpräzise Umschreibung des Umfangs oder der Schwierigkeit des Verfahrens, die für die Mitwirkung eines dritten Richters maßgeblich sein soll. Aber auch die nur orakelhaft vorhersehbare Frist von mindestens zehn Verhandlungstagen, die zu einer Dreierbesetzung führen sollen, eröffnen Beurteilungsspielräume, die missbräuchlich genutzt werden könnten. Darüber hinaus darf nicht hingenommen werden, dass ein Gericht selbst entscheidet, in welcher Besetzung es tätig sein will. Es besteht die Gefahr der Ungleichbehandlung verschiedener Delinquenten vor den Großen Straf- und Jugendkammern und somit die Verfestigung unterschiedlicher Standards. Eine derartige Ungleichbehandlung verstößt auch gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes.
Dass die Bedenken zutreffend sind, ergibt sich aus der unterschiedlichen Anwendungshäufigkeit in den Gerichten. Laut eines Gutachtens der Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes wurden zum Beispiel im Saarland 9 % der Verfahren in der ausnahmsweisen Zweierbesetzung verhandelt, in Bayern und Sachsen hingegen satte 90 %. Und das, obwohl der angeblich in allen Belangen vorbildliche Freistaat Bayern nicht zu den neuen Bundesländern mit Richtermangel und knappen Kassen gehört.
Dieses Ungleichgewicht vermag der vorgelegte Entwurf nicht zu beseitigen, so dass es besser wäre, die befristete Regelung einfach auslaufen zu lassen und zu dem über 114 Jahre bewährten Rechtszustand vor 1993 zurückzukehren.
Zu dem Gesetzentwurf wurden noch drei Änderungsanträge in den Rechtsausschuss eingebracht. Die Anträge von SPD und BündnisGrünen lassen zwar vermuten, dass sie die Defizite des Entwurfes erkannt haben, vermögen es aber leider nicht, die Mängel gänzlich auszuräumen.
Ja, und dann gibt es noch einen überraschenden Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen. Meine Damen und Herren, es ist schon erstaunlich, was da by the way geplant ist. Sie möchten damit Fehler in längst abgeschlossenen Gesetzgebungsverfahren beheben. Sie haben selbst eingeräumt, dass das mit der Besetzung von Straf- und Jugendkammern gar nichts zu tun hat.
Bei dem Zuständigkeitskatalog des Schwurgerichts und den Beamtenbeisitzer im Disziplinarsenat beim Bundesverwaltungsgericht könnte man noch einmal ein Auge zudrücken. Aber der Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren hat sachlich nun überhaupt nichts mit einem Gesetz zu tun, dass die Besetzung von großen Straf- und Jugendkammern regelt! Abgesehen davon leistet der Änderungsantrag auch keinen Beitrag zur Steigerung der Qualität des Entwurfes, was nach den Argumenten der Sachverständigen nötig gewesen wäre.
Dem offensichtlichen Versuch, die Rechtspflege fiskalischen Interessen der Länder unterzuordnen und dem Versuch, eine neue Materie einfach ohne erste Lesung mitzuregeln, versagt meine Fraktion die Unterstützung.