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Ein Anspruch auf Würde und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist mit 345 Euro kaum möglich.

Rede von Elke Reinke,

Elke Reinke in der Debatte zur Regierungserklärung über die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der großen Koalition

"Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte Damen und Herren! Die Linke im Bundestag begrüßt ausdrücklich die Angleichung der Regelleistungen beim Arbeitslosengeld II. Dieser Schritt ist längst überfällig; denn die Lebenshaltungskosten in Sachsen-Anhalt unterscheiden sich nicht von denen in Hessen oder Niedersachsen. Die unbegründete Unterscheidung zwischen Ost und West war für viele Menschen im letzten Jahr auch ein Grund dafür, protestierend auf die Straße zu gehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir hatten damit Recht. Die Montagsdemonstrationen haben viel in unserem Land verändert, unter anderem und nicht zuletzt die Zusammensetzung dieses Hohen Hauses.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb ist die Anhebung des Arbeitslosengeldes II in Ostdeutschland auf 345 Euro dringend geboten, und zwar rückwirkend zum 1. Januar 2005.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe war ein richtiger Schritt. Sozialhilfeempfänger sind endlich sozialversichert. Die Forderung der Sozialverbände und der Arbeitsgruppen war, die alte Sozialhilfe armutsfest zu machen. Das ist mit Hartz IV nicht erfüllt worden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein Anspruch auf Würde und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist mit dem staatlich gewährten Existenzminimum in Höhe von 345 Euro plus Wohn- und Heizkosten kaum möglich. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.

(Beifall bei der LINKEN)

In der alten Sozialhilfe gab es Einmalleistungen, zum Beispiel für die Schulausstattung eines Kindes oder den Kauf einer Waschmaschine. Heute verlangt der Gesetzgeber, dass der notwendige Betrag zur Deckung der Kosten angespart wird. Täglich stehen dem Arbeitslosengeld-II-Empfänger zur Verfügung: 88 Cent für das Frühstück, je 1,57 Euro für Mittag- und Abendessen, 60 Cent für den öffentlichen Nahverkehr, 7 Cent für Telefonate sowie 15 Cent für Sport- und Freizeitveranstaltungen. Sollen unsere Bürgerinnen und Bürger ohne Arbeit lieber die täglichen 34 Cent für Zeitungen und Zeitschriften oder 34 Cent für den täglichen Café- oder Kneipenbesuch einsparen?

(Zuruf von der LINKEN)

- Das wäre eine Möglichkeit. - Verzichteten sie auf Zeitungen und Zeitschriften, dann könnten sie sich nach einem Jahr Handwäsche mit etwas Glück den "Luxus" einer gebrauchten Waschmaschine leisten.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Im Koalitionsvertrag steht zu Recht: "Eine Gesellschaft ohne Kinder hat keine Zukunft." Diesen Satz müssen wir aber auch ernst nehmen. Eine Familie aus meiner Nachbarschaft in der Nähe von Aschersleben versucht, diesen Anspruch bei ihren fünf Kindern umzusetzen. Bis zum letzten Jahr haben drei von ihnen die Musikschule besucht. Unter Arbeitslosengeld-II-Bedingungen wäre es vielleicht noch möglich, einem Kind den "Luxus" von Busfahrt und Musikunterricht zu gönnen.

(Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Das ist nicht hinnehmbar!)

Welches Kind darf es sein? Wie würden Sie entscheiden? Ich sage Ihnen das Ergebnis: Keines der Kinder geht mehr hin.

(Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): So sieht es im Leben aus!)

345 Euro plus Wohnkosten reichen nicht aus, um Grundbedürfnisse ausreichend zu befriedigen. Hartz IV führt zu Existenzunsicherheit, Armut und sozialer Isolation und erzeugt in der Gesellschaft ein Klima der Angst.

(Beifall bei der LINKEN)

Sozial ist nicht nur, was Arbeit schafft. Man muss davon auch menschenwürdig leben können.

(Beifall bei der LINKEN)

Hartz IV sollte Erwerbslose fördern, damit sie wieder in den ersten Arbeitsmarkt kommen. Hartz IV hat zwar Arbeitsplätze geschaffen, aber fast nur in der Verwaltung der Arbeitslosigkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Das war wohl nicht der Zweck dieser teuren "Jahrhundertreform". Die Verdächtigungen von Herrn Clement lenken von dem Versagen der Reformen ab. Eigentlich wäre eine öffentliche Entschuldigung fällig.

(Beifall bei der LINKEN)

Stattdessen will die große Koalition Leistungsempfänger zur Teilnahme an telefonischen Umfragen verpflichten. Damit höhlt sie die geltenden Rechtsgrundlagen aus. Das geplante Instrument des Datenabgleichs greift auf die Methoden der Rasterfahndung zurück.

Politik verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn das gesellschaftliche Problem der Erwerbslosigkeit durch Beschimpfung und Druck auf einkommensschwache und erwerbslose Menschen gelöst werden soll.

(Beifall bei der LINKEN - Hans Michelbach (CDU/CSU): Ein bisschen einfach, Frau Kollegin! Ein bisschen simpel!)

Zuerst bauen Sie soziale Rechte ab, jetzt schränken Sie auch noch bürgerliche Freiheitsrechte ein. Das ist das Gegenteil von "Mehr Freiheit wagen".

(Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der CDU/CSU: In der DDR war eben alles besser!)

Die Regierungskoalition will 3,8 Milliarden Euro im Haushalt der Bundesagentur streichen. Ein Teil dieser Sparsumme soll durch Kürzung der Rentenbeiträge erwerbsloser Menschen von monatlich 78 Euro auf 40 Euro erbracht werden. Das ist aber ein Sparen auf Kosten der zukünftigen Rentenleistungen genau dieser Menschen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die von Ihnen geplanten Vorhaben, vor allem die Erhöhung der Mehrwertsteuer, bedeuten für Erwerbslose und einkommensschwache Menschen eine weitere Einschränkung ihres Lebensunterhaltes um bis zu 15 Prozent.

Eine zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik muss sich an anderen Kriterien messen lassen: Wie kann die vorhandene Erwerbsarbeit gerecht verteilt werden? Wie können gesellschaftliche Tätigkeiten, Pflege- und Erziehungsaufgaben zu Feldern der Erwerbsarbeit werden? Auf diese Fragen ist im Koalitionsvertrag kaum eine Antwort zu finden.

(Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Bedauerlicherweise!)

Meine Fraktion hält einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor für unumgänglich.

(Beifall bei der LINKEN)

Er ist auch finanzierbar, wenn unter anderem die 1-Euro-Jobs in reguläre, versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse überführt werden. Es gibt viele soziale, ökologische, kulturelle und sportliche Aufgabenfelder.

Die Linke im Bundestag fordert eine bedarfsgerechte soziale Grundsicherung, und zwar für jeden Bedürftigen. Eine Kindergrundsicherung muss schnellstmöglich eingeführt werden. Das ist die wirkliche Alternative zu Hartz IV.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine Antwort auf das Problem der Massenarbeitslosigkeit wird die Politik nur mit den Menschen finden. Eine solche Politik muss sozial gerecht sein und allen Menschen eine Perspektive bieten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)"