Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Ruppert dankbar dafür, dass er den Wahlrechtsschutz noch einmal angesprochen hat. Denn in vier von fünf Punkten sind wir uns bei diesem Gesetzentwurf einig. Wir sind uns nur an einer Stelle nicht einig, und das ist die Frage der Dreiprozentsperrklausel.
Ich komme nicht umhin, zu Anfang noch etwas zum Verfahren zu sagen. Wir haben die erste Lesung dieses Gesetzentwurfs ohne Debatte durchgeführt. Am Mittwoch der vergangenen Sitzungswoche hat der Innenausschuss beschlossen, eine Anhörung durchzuführen. Die Anhörung ist am Montag durchgeführt worden. An dieser Anhörung haben der Kollege Ruppert, der Kollege Wieland und ich teilgenommen. Nach dem Höferlin’schen Gesetz aus dem Rechtsausschuss dürfte heute gar nicht abgestimmt werden. Der Kollege Höferlin hatte seinerzeit, als es um die Strafbarkeit von Abgeordnetenbestechung ging, darauf hingewiesen, dass noch gar kein Protokoll vorliege. Ich nehme zur Kenntnis: Wir stimmen heute über einen Gesetzentwurf ab, obwohl auch noch kein Protokoll über die Anhörung liegt. Das kann man machen, muss man aber nicht machen.
Wir haben rechtliche und politische Bedenken gegen eine Dreiprozenthürde. Ich will – das ist zumindest den Berichterstattern bekannt – nochmals auf die Randnummer 118 des Bundesverfassungsgerichtsurteils hinweisen. Ich zitiere:
Deshalb fehlt es an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln einzugreifen, so dass der mit der Anordnung des Verhältniswahlrechts auf europäischer Ebene verfolgte Gedanke repräsentativer Demokratie … im Europäischen Parlament uneingeschränkt entfaltet werden kann.
(Beifall bei der LINKEN)
Das Verfassungsgericht spricht bewusst von Sperrklauseln. Jetzt kann man sich darüber streiten, ob deswegen eine Sperrwirkung für den Gesetzgeber eintritt oder nicht. Das ist zumindest ein Indiz dafür, dass es sich das Bundesverfassungsgericht mit der Dreiprozentsperrklausel auch nicht so einfach machen würde.
Herr Grindel, der ja nicht bei der Anhörung war, weswegen er das vielleicht nicht besser wissen konnte
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Entschuldigung! Ich bin in der Flut stecken geblieben! Das können Sie mir nicht vorwerfen! Bei aller Liebe!)
– okay, akzeptiert; Sie sind in der Flut stecken geblieben –, hat hier vorgetragen, es gebe neue rechtliche und tatsächliche Gründe. Ich gebe zu: Ich finde das ein wenig abenteuerlich. Das Bundesverfassungsgericht hat den Lissabon-Vertrag in seinem Urteil ausdrücklich und eingehend dekliniert, bewertet und zur Kenntnis genommen. Eine Entschließung des Europäischen Parlaments wird hier als neuer rechtlicher und tatsächlicher Grund angeführt. Seit wann richtet sich die Verfassungslage danach, was politisch gewollt ist? Das Europäische Parlament ist noch immer ein Parlament und kein Rechtsetzungsorgan.
(Beifall bei der LINKEN)
Daneben ist gesagt worden, die 3 Prozent seien das deutlich mildere Mittel. Herr Wieland sagt dann immer: Fünf ist mehr als drei.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat Herr Ruppert auch erkannt!)
Durch die schriftliche Stellungnahme von Wilko Zicht von Wahlrecht.de ist erwiesen, dass es faktisch leider nicht so ist. Denn auch bei einer Dreiprozenthürde, hochgerechnet auf die Europawahl 2009, wären 10 Prozent der gültigen Stimmen – das sind die Stimmen von 2,8 Millionen Wahlberechtigten – nicht an der Sitzverteilung des Europaparlaments beteiligt gewesen. Auch von daher ist das Argument nicht ganz überzeugend.
Zum Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen will ich nur kurz sagen: In der Anhörung ist darauf hingewiesen worden, dass es Bedenken hinsichtlich der Unmittelbarkeit und der Gleichheit der Wahl gibt. Wir teilen diese Bedenken.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)
Nun möchte ich aber noch etwas zu den politischen Bedenken sagen. Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass die Bevölkerung der Souverän ist. Wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen damit umgehen, was der Souverän gewählt hat. Es kann doch nicht sein, dass sich der Souverän danach zu richten hat, wie wir unsere Arbeit organisieren, und dass Stimmen des Souveräns einfach hinten runterfallen, wenn wir unsere Arbeit nicht organisiert bekommen. Das ist für mich nicht nachvollziehbar.
(Beifall bei der LINKEN)
Deswegen lehnen wir auch aus politischen Gründen eine Sperrklausel ab.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war auch nicht überzeugend!)
Ich komme zum Schluss und will Ihnen sagen: Lassen Sie uns doch einfach die Chance nutzen, ein Parlament ohne Sperrklauseln zu haben, ein Parlament, in dem vielleicht das Argument, das Zuhören und die freie Debatte zählen.
Am Ende sage ich Ihnen: Wer will, dass alles bleibt, wie es ist, der will nicht, dass es bleibt. Ich möchte, dass der Parlamentarismus bleibt.
(Beifall bei der LINKEN)