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Foto: Rico Prauss

Dietmar Bartsch: EU mit Ende der Merkel-Amtszeit sozial und politisch tief gespalten

Rede von Dietmar Bartsch,

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe selten so viel Beifall vor einer Rede bekommen.

(Heiterkeit – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nach der Rede wird das auch nicht mehr so viel! – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Selten so wenig Linke im Plenum gesehen!)

Frau Bundeskanzlerin, nach 16 Jahren ist der anstehende Europäische Rat voraussichtlich Ihr letzter. Nachdem ich die Reden gerade gehört habe, muss ich sehr stark das „voraussichtlich“ betonen; denn ich vermute, die Regierungsbildung wird noch länger dauern als beim letzten Mal. Darauf lassen die sehr unterschiedlichen Positionen hier schließen.

Die Europäische Union, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, ist mit dem Ende Ihrer Amtszeit in keinem guten Zustand. Denn was ist denn der Maßstab? Der Maßstab ist nicht, was die Menschen in den europäischen Ländern darüber denken, sondern, wie ihre Situation tatsächlich ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Und da sagen alle Befragungen – nicht nur Die Linke –, dass wir uns in einer sehr problematischen Situation befinden. Ich darf daran erinnern, was vor einem Jahr zu Beginn der Pandemie los war; darüber hat eben sogar Armin Laschet gesprochen: Grenzen wurden zugemacht und Ähnliches. Da hat man gesehen, wie gefährlich die Situation ist. Das Gemeinsame mag sich ja danach entwickelt haben; aber zunächst haben wir die riesengroße Gefahr der unendlich vielen Alleingänge gesehen.

Da Sie zu den Impfstoffen eine Bemerkung gemacht haben, möchte auch ich noch etwas dazu sagen. Es ist ja sehr gut, dass jetzt die Vereinbarung über die 2,3 Milliarden Dosen getroffen werden soll. Das ist völlig in Ordnung. Aber Sie haben sich noch mal ausdrücklich dagegen ausgesprochen, dass die Patente freigegeben werden sollen. Ich will noch mal deutlich sagen: Niemand hier im Deutschen Bundestag fordert, dass Patente allgemein und grundsätzlich freigegeben werden, weil dann Forschung behindert wird. Das ist überhaupt nicht die Position. Aber wenn eine Krise ist und es um Leben und Tod geht, dann muss man besondere Entscheidungen treffen.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb ist die Forderung richtig, die Patente freizugeben.

Frau Bundeskanzlerin, im letzten Jahr hatte Deutschland, hatten Sie die europäische Ratspräsidentschaft inne. Sie haben damals gesagt:

"Die höchste Priorität der deutschen Ratspräsidentschaft ist es, dass Europa geeint und gestärkt aus der Krise kommt. Aber wir wollen Europa nicht nur kurzfristig stabilisieren – das wäre zu wenig. Wir wollen auch ein Europa, das Hoffnung macht … Wir wollen ein Europa, das zukunftsfähig ist ... Wir wollen einen Aufbruch für Europa."

Ich kann dem nur vollinhaltlich zustimmen. Armin Laschet hat gesagt: Europa mehr denn je. – Aber, ehrlich gesagt, den Anspruch, den Sie formuliert haben, haben Sie nicht eingelöst.

(Beifall bei der LINKEN)

Europa ist in keiner Phase des Aufbruchs, sondern Europa taumelt im Kern wie ein angeschlagener Boxer vor dem K.o. von einer Ecke in die andere. Vor dem K.o. stehen vor allen Dingen die ganz normalen Bürgerinnen und Bürger der EU, jedenfalls vielfach.

Es geht um ein Europa der Menschen. Das muss doch der Kern sein. Die müssen unser Maßstab sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Und wenn wir die Situation daran messen, ist sie eine schlechtere. Wir erinnern uns doch an die Finanzkrise; hier ist heute auch schon mehrfach darüber gesprochen worden. Damals war es so, dass die Verkäuferin, die Polizisten, der Paketbote und die Altenpflegerin das, was Banken verursacht haben, letztlich mit Steuermitteln bezahlt haben.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Genau!)

Das können wir nicht akzeptieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir sehen doch bei den Schulen, was dabei herausgekommen ist, welche Defizite wir haben.

Und wie wird das diesmal sein? Ich hätte mir gewünscht, dass endlich mal die Profiteure der Krise, die Milliardäre und Multimillionäre in ganz Europa, einen Beitrag zur Finanzierung leisten und dass Deutschland dazu initiativ geworden wäre.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine europaweite Vermögensabgabe für diese Leute wäre mal eine deutsche Initiative gewesen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber die EU hat doch in all den Jahren – ich will das wirklich noch einmal aufzählen – vor allem gegen ein soziales Europa gearbeitet. Seit 2011 hat die EU-Kommission 63-mal zu Kürzungen im Gesundheitswesen und zur Privatisierung von Krankenhäusern aufgerufen. 50-mal hat die Regierung zu Maßnahmen aufgerufen, um steigende Löhne zu unterbinden. 38-mal wurden Anweisungen zur Reduzierung des Kündigungsschutzes gegeben. Frankreich wurde aufgefordert, die Renten zu kürzen. Das ist die Realität, und deshalb ist die Europäische Union tief gespalten. Das ist die reale Situation.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer ein soziales und bürgernahes Europa verhindert, nimmt den Menschen Sicherheit und Kontrolle über ihr Leben und zerstört vor allen Dingen Vertrauen in Politik und in Europa. Es ist doch ein Treppenwitz, dass ausgerechnet der neoliberale Boris Johnson auf diesem Nährboden mit dem Slogan „Take back control“ Großbritannien aus der EU geführt hat. Das ist wirklich ein Treppenwitz. Diese Kampagne war schmierig und voller Lügen, aber das Problem ist doch: Er hat an das Gefühl der Menschen angeschlossen, dass dieses Europa kalt und teuer ist. Da das real ist, hat das funktioniert. Das muss uns doch allen zu denken geben. Das ist doch nicht nur ein kleines Problem in Großbritannien, das ist ein europäisches Problem. Wir müssen gemeinsam etwas tun, damit die Menschen eben nicht sagen: Diese Europäische Union ist kalt, und da wird nur an Geld gedacht.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, Olaf Scholz hat gesagt: Dieses Europa muss politischer werden. – Sehr richtig. Ja, die Maßstäbe Menschenwürde und Rechtsstaat müssen ganz oben stehen, ohne jede Frage. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa befindet sich doch gerade in diesem Punkt in einer enorm schweren Krise. Seit 2015 ist es zu keinem Zeitpunkt gelungen, eine europäische Flüchtlingspolitik auf den Weg zu bringen, die Humanität großschreibt, die Menschenrechte uneingeschränkt achtet und die Lasten gerecht verteilt. Jede Woche ertrinken Menschen im Mittelmeer, werden in libyschen Lagern Menschen gequält und erniedrigt. Die europäische Moral befindet sich in einem Schraubstock zwischen der libyschen Küstenwache und dem türkischen Despoten Erdogan. Das ist die Wahrheit, und das ist eine europäische Bankrotterklärung, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie haben sicherlich noch mehr schlaflose Nächte in Brüssel verbracht als mit den Ministerpräsidenten unseres Landes in der Coronakrise. Es ist wirklich so: Mancher Vorwurf, der Ihnen gemacht worden ist, geht wirklich nicht auf Ihr Konto. Sie haben vielfach Schlimmeres verhindert. Das ist die Wahrheit. Aber ich glaube, das ist letztlich für die Ambitionen, die wir mit Europa haben sollten, zu wenig.

Herzlichen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der LINKEN)