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Foto: Rico Prauss

Dietmar Bartsch: Am 24.9. geht es auch um die Wiederherstellung des Sozialstaates

Rede von Dietmar Bartsch,

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Lammert hat ja angemahnt, wir sollten weniger reden, sondern mehr debattieren. Da muss ich selbstverständlich auf Herrn Kauder und auch auf Herrn Oppermann eingehen. Herr Kauder, Sie haben eben gesagt, Sie wollten gar nicht aufrüsten, es sei schäbig, das zu sagen. Ja, was ist es denn, wenn man den Verteidigungsetat von 37 Milliarden Euro auf letztlich 70 Milliarden Euro anheben will? Das ist Aufrüstung, das ist nichts anderes.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn man den Verteidigungsetat jedes Jahr um 3 Milliarden Euro erhöht, ist das auch nichts anderes. Was hat denn das mit schäbig zu tun? Das ist das, was Sie vorhaben. Darüber muss man doch reden. Die Menschen müssen wissen: Sie wollen deutlich mehr für Verteidigung ausgeben. Sie wollen auch weiter Waffen exportieren, und es gibt andere, die deutlich dagegen sind.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Oppermann, 3 Milliarden Euro jedes Jahr mehr für den Verteidigungsetat ist auch Aufrüstung; das ist nichts anderes. Es gibt aber eine Partei, die einen Abrüstungswahlkampf führt.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Der Friede muss doch bewaffnet sein, Herr Bartsch! Das haben wir doch gelernt vor 30 Jahren!)

Eins muss ich Ihnen auch sagen: Sie haben hier so wunderbare Vorschläge gemacht. Ich habe gedacht, das ist eine Liste der Anträge der Linken. Ich frage mich, wieso Sie nur ein einziges Mal in dieser Legislatur – bei der Ehe für alle – den Mut hatten, wenigstens die Dinge, die im Koalitionsvertrag stehen, umzusetzen. Die Abschaffung der Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung hatten Sie sogar vereinbart. Nicht einmal das haben Sie geschafft. Und jetzt tun Sie so, als wenn Sie das alles hätten anders machen wollen. Das ist, ehrlich gesagt, nicht ehrlich, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will die Frage stellen – bei allen Krisen dieser Welt; darüber ist geredet worden; da ist manches zu unterstützen –: Warum eigentlich kann Europa in dieser Situation nicht eine andere Rolle spielen? Ich frage einmal ganz nüchtern: Ist Europa heute eigentlich ein besseres als vor zwölf Jahren, als Angela Merkel Kanzlerin geworden ist? Wie ist denn die Situation? Den Brexit haben wir. Die Finanzmarktkrise ist nicht bewältigt. Wir haben das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Parteien. Wir haben eine Jugendarbeitslosigkeit in den Südländern von über 50 Prozent – in Griechenland das vierte Jahr. Da wächst eine Generation der Hoffnungslosigkeit heran. Der desolate Zustand in Europa hat aber mit Ihrer Politik, mit der Politik von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble, zu tun. Das hat zur Entsolidarisierung geführt, meine Damen und Herren. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Kauder hat gesagt: Hier ist über einiges nicht geredet worden. – Ja, das ist mir auch aufgefallen. Hier ist über einiges nicht geredet worden. Wenn ich in meinem Wahlkreis in Rostock bin, höre ich ganz andere Themen, über die geredet wird. Es gab in unserem Land mal den schönen Satz: Unseren Kindern soll es einmal besser gehen. – Wir hatten gerade die Einschulung in Brandenburg und in Mecklenburg-Vorpommern; jetzt am Sonnabend ist sie auch in Berlin. Wir sind uns doch einig, dass eigentlich alle diese kleinen Kinder in unserem Land die gleichen Chancen haben sollten. Aber das Ergebnis Ihrer Politik ist, dass sie nicht die gleichen Chancen haben. Das ist die Realität. Unsere Kinder haben nicht die gleichen Chancen, und das hat natürlich zuallererst mit Elternarmut zu tun.

Sie sagen so schön: Im Schnitt geht es Deutschland gut. – Ja, das ist wie mit der Kuh, die in dem Teich, der 50 Zentimeter tief war, ertrunken ist. Es gibt perversen Reichtum und Armut in unserem Land. Das ist die Realität.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Kanzlerin hat angeführt: Mit den Arbeitsplätzen ist es deutlich besser. – Bei jedem Arbeitsplatz, der gut bezahlt wird, unterstützen wir das. In Kommunen und Ländern machen wir etwas, Unternehmen und Gewerkschaften arbeiten daran. Aber es ist doch eine Frage zu beantworten: Hat denn das alles in unserem Land zu mehr Armut oder nicht geführt? Das ist eine zentrale Frage. Da kann ich nur eines feststellen: Als Angela Merkel Kanzlerin wurde, lag die Armutsrisikoquote bei 14 Prozent. Jetzt liegt sie bei 15,7 Prozent. Bei den Beschäftigten ist das Risiko, in Armut zu kommen, obwohl sie vollzeitbeschäftigt sind, von 6,8 Prozent auf 9,7 Prozent gestiegen. Da ist doch etwas nicht in Ordnung in unserem Land.

(Beifall bei der LINKEN)

Besonders skandalös ist, dass es in unserem reichen Land Kinderarmut gibt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Zahl ist in den letzten Jahren gestiegen. Das hat doch etwas mit Politik zu tun. Warum haben Sie da nichts getan? In Ihrem Koalitionsvertrag kommt dieses Wort nicht vor. Ich hoffe, im nächsten, egal, wer ihn schreibt, kommt dieses Thema endlich vor. Diesen unhaltbaren Zustand muss man endlich beenden.

Wie ist es mit der Altersarmut? Es ist eine ähnliche Situation. Die Zahl der Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, ist in den letzten zehn Jahren von 365 000 auf 525 000 gestiegen. Das sind 44 Prozent. Warum gibt es bei uns nicht eine Mindestrente von 1 050 Euro? Das können wir doch finanzieren, wenn wir wollen, wenn es eine ordentliche Rentenreform gibt.

(Beifall bei der LINKEN)

Es bleibt dabei: In einem Land, in dem Alleinerziehende Zukunftsangst haben, in dem Kinderreichtum zum Armutsrisiko wird und in dem alte Menschen Flaschen sammeln, kann man von Sozialstaat nicht reden. Am 24. September geht es auch um die Wiederherstellung des Sozialstaats in unserem Land, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

Die andere Seite der Medaille kennen wir alle: Das ist dieser Reichtum. Die Zahl der Milliardäre in unserem Land steigt. 186 Milliardäre! Die 500 reichsten Familien haben von 2011 bis 2016 ihr Vermögen von 500 Milliarden Euro auf 692 Milliarden Euro gesteigert. Das ist obszön, meine Damen und Herren. Als Norddeutscher weiß ich: Die Steuern heißen auch so, weil wir damit das Land steuern. Da muss etwas passieren. Wir haben das Steuersystem des vergangenen Jahrhunderts, und diese Koalition hat in den letzten Jahren auf diesem Gebiet nichts bewegt. Es gehört Mut dazu, sich mit den Mächtigen anzulegen. Aber diesen Mut haben Sie nicht.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es wird immer über den ausgeglichenen Haushalt gesprochen. Wir haben gar nichts dagegen, dass es ausgeglichene Haushalte gibt. Aber wir müssen an der Spitze noch etwas abholen. Ich könnte Ihnen jetzt zur Erbschaftsteuer und zur Vermögensteuer vortragen. Das kann man alles im Wahlprogramm nachlesen. Aber eines will ich schon noch sagen, weil hier immer über die Riesenleistung des Finanzministeriums geredet wird: Wer ist denn eigentlich verantwortlich für den Skandal der Brennelementesteuer?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Wer ist denn eigentlich verantwortlich für die Cum/Ex-Geschäfte? Wer ist denn eigentlich verantwortlich dafür, dass nach Veröffentlichung der Panama Leaks nichts passiert ist? Das alles lag in der Hoheit des Finanzministers. Da gehen die Mittel verloren, die wir eigentlich für Investitionen in Bildung, für Investitionen im Pflegebereich, für Investitionen in erneuerbare Energien brauchen. Da haben Sie Fehler gemacht. Da muss es Veränderungen geben, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Karamba Diaby [SPD])

Dann höre ich hier auch sehr viel zu den Themen Dieselgate, Abgasskandal usw. Nun sind diese Absprachen und all das andere auch so schon ein Riesenskandal. Aber wie die Politik, wie die Regierung damit umgeht, das ist doch auch ein Skandal. Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, sitzen mit den Verursachern der Krise zusammen,

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

aber nicht mit denjenigen, die betroffen sind. Das alles haben doch Leute zu verantworten, die ganz fette Millionenverträge hatten. Der Winterkorn hat 17,1 Millionen Euro verdient; der war immer stolz, dass er am allermeisten verdient. Wo wird denn so jemand mal zur Verantwortung gezogen? Da glaubt doch kein Mensch, dass das ohne Mitwisserei des Wirtschaftsministeriums oder nachgeordneter Regierungsbehörden möglich war.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich meine, das ist ein Betrug, ein Kartell der Wirtschaft. Ich habe jetzt wenigstens verstanden, wieso das in den Stadien Banden werbung heißt: Ja, das heißt aus gutem Grund Bandenwerbung, meine Damen und Herren.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

Im Wahlkampf fragen jetzt viele Menschen: Wie ist es eigentlich mit den Verantwortlichen? Wieso steht hier eigentlich keiner vor Gericht? In den Vereinigten Staaten ist das doch so. Es ist irgendwie komisch, dass das bei uns nicht passiert. – Da wird immer mehr gefragt. Die Leute kommen auf einen zu und fragen: Wie ist es eigentlich mit Verfristungen? – Die Arbeiter, ob in Wolfsburg oder Leipzig, ob in Chemnitz oder Hannover, bangen teilweise um ihre Zukunft. Sie von der Regierung haben das alles zulasten der Umwelt, zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher, zulasten der Zulieferindustrie, letztlich auch zulasten des Standortes Deutschland mitzuverantworten. Bei den Sammelklagen lassen Sie jetzt einen Verschiebebahnhof auf die Zeit nach der Wahl zu. Das ist doch alles unverantwortlich. So verlieren die Menschen den Glauben an die Politik, meine Damen und Herren.

Was sagen Sie eigentlich den Tausenden von Ingenieurstudentinnen und ‑studenten, ob nun in Rostock oder Dresden, die an Technik und an Fortschritt glauben und dafür arbeiten wollen? Sie, Frau Merkel, haben von made in Germany gesprochen und davon, dass sie ihr Leben damit verbinden sollen. Das ist ja sehr gut. Aber ist es jetzt wirklich so, dass man dazu immer noch eine Riesenportion Zynismus braucht: Erwischt? Pech gehabt, aber dann weiter so! – Das kann doch wohl nicht wahr sein. Da müssen doch auch von hier andere Signale kommen.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich habe jetzt am Wochenende viel über Fluchtursachen gehört. Das ist auch so ein Punkt. Ich glaube, wir haben hier im Haus ganz großen Konsens darüber, dass wir da wirklich etwas tun müssen. Es kann aber doch nicht sein, dass wir ernsthaft – – Liebe Frau Merkel, es mag zwar spannend sein, sich mit Herrn Kauder zu unterhalten, aber es wäre vielleicht auch eine gute Idee, einmal einen Moment zuzuhören – einen Moment nur!

(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])

– Sie sollten auch nicht einfach so abwinken, Herr Kauder. Es könnte passieren, dass man später auch einmal in der Opposition sitzt. – Aber gut.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn Sie mit mir reden wollen, gehen wir gleich raus!)

– Wir können gerne rausgehen, wir beide. Das machen wir einmal. Das wäre doch einmal eine Sache.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt sofort!)

Also, ich finde es für die Große Koalition inakzeptabel, über Fluchtursachen zu reden, nachdem sie in dieser Legislaturperiode so viele Waffenexporte wie noch nie genehmigt hat. Es ist unglaubwürdig, vor diesem Hintergrund ernsthaft zu sagen: Wir wollen Fluchtursachen bekämpfen. – Ich finde, das geht überhaupt nicht. Wenn Sie weiterhin auch noch Waffen in die Türkei exportieren, ist das ein ganz großer Skandal.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im Übrigen kann ich mich hinsichtlich der Aussagen über die Staatsministerin in dem Fall der Kanzlerin, Cem Özdemir und auch Thomas Oppermann nur anschließen. Das ist völlig inakzeptabel. Wir werden jedenfalls bis zum letzten Tag kämpfen, dass hier in diesem Hause keine rechtspopulistische Partei vertreten ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der auch nicht vorkommt, nämlich die Angleichung der Lebensverhältnisse. Frau Merkel, es ist nun einmal die Wahrheit – das erleben wir doch alle –, dass die „blühenden Landschaften“ und die „Chefsache Ost“ bei vielen als – na ja, auf gut Deutsch – Verarschung ankommen. Sie wollen offensichtlich nicht darüber reden. Es gibt jedoch weiter einen riesigen Lohnabstand, es gibt weiterhin riesige Defizite bei Landärzten, es gibt Defizite in der Pflege. Und jetzt wird tatsächlich ein unterschiedlicher Mindestlohn für das Pflegepersonal in Ost und West vereinbart. Pflege und Zuneigung für Menschen, die gepflegt werden müssen, dürfen doch nicht in Ost und West unterschiedlich bezahlt werden, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist doch unsere Aufgabe, hier nachhaltig Druck zu machen, dass genau das nicht passiert.

Besonders skandalös ist natürlich, wie es in den neuen Ländern um das Thema Breitbandausbau und ‑netze bestellt ist. Herr Dobrindt, was haben Sie in den vergangenen vier Jahren gemacht! Ich habe mir noch einmal Ihre Ankündigungen durchgelesen, nicht zur Vorbereitung auf heute, sondern zur Vorbereitung der gestrigen Sendung. Davon ist ja nichts realisiert worden. Das Netz ist schlechter als in Georgien, Rumänien oder Peru. Das ist doch wirklich unhaltbar. Was haben Sie in den vier Jahren gemacht? Das Entscheidende ist doch, dass endlich etwas passieren muss. Jetzt machen Sie im Wahlkampf so weiter; ein Schlafwagen-Wahlkampf.

Ein Land, in dem man gut und gerne leben kann – das unterschreiben wir alle. Gute Arbeit, gute Löhne – das unterschreiben wir alle. Aber Auseinandersetzungen um die Zukunft unseres Landes müssen geführt werden: Es geht darum, ob der soziale Zusammenhalt in diesem Land wiederhergestellt wird. Es geht um die Zukunft Europas, damit dieses Projekt – es war ein Friedensprojekt – nicht scheitert. Dabei hat diese Koalition in den letzten vier Jahren wenig bis gar nichts geleistet. Deswegen wäre es sehr sinnvoll, wenn am besten beide Parteien nicht mehr in Regierungsverantwortung kommen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Frau Präsidentin, da so viel gedankt worden ist, nehme ich mir diese Besonderheit heraus und danke den Vizepräsidenten ebenfalls für ihre Arbeit. Alles Gute auf allen Wegen!

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)