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Diese NATO lehnen wir ab

Rede von Oskar Lafontaine,

Rede zur Regierungsklärung zum NATO-Gipfel.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herrn! Als die NATO nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, wusste die Staatengemeinschaft, dass Sicherheit nur gemeinsam zu erreichen sein würde. Die NATO wurde als Verteidigungsbündnis konzipiert und verpflichtete sich auf die Charta der Vereinten Nationen. In dieser Charta ist festgelegt, dass auf Gewaltanwendung verzichtet wird, außer im Verteidigungsfall. In dieser Charta ist festgelegt, dass selbst die Androhung von Gewalt kein Mittel der Politik sein soll.

In den 60er-Jahren diskutierte die NATO über die Strategie des Gleichgewichts. Ein ehemaliger Bundeskanzler hat dazu ein lesenswertes Buch geschrieben. Als im Zuge der Aufrüstung die Strategie des Gleichgewichts immer mehr hinterfragt wurde, verlor die NATO an Unterstützung, auch im Westen, in der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland.

(Zuruf von der SPD: Im ganzen Westen!)

- Bitte schön: Im ganzen Westen. - Es gab große Demonstrationen. Hunderttausende versammelten sich im Hofgarten und wiesen darauf hin, dass unter Bezugnahme auf die Theorie des Gleichgewichts die Überrüstung nicht mehr zurechtfertigen gewesen sei. Sie wiesen darauf hin, dass es keinen Sinn macht, sich mehrfach vernichten zu können und solche Drohungen aufrechtzuerhalten. Sie forderten Abrüstung.

Ich erinnere daran, weil eines im Grunde genommen immer festzustellen war: In allen Reden wurde zwar die Abrüstung beschworen, aber in Wirklichkeit wurden permanent die militärischen Fähigkeiten, wie es so schön hieß, verbessert. Auch heute noch gehört es zur Wahrhaftigkeit, zu sagen: Die NATO, dieses Bündnis, das diesen Werten verpflichtet sein soll, ist verantwortlich für zwei Drittel der Rüstungsausgaben der ganzen Welt. Das stimmt mit dem, was erklärt wird, schlicht und einfach nicht überein.

(Beifall bei der LINKEN)

Nach dem Fall der Mauer hat die NATO ihre Struktur entscheidend gewandelt. Sie ist nicht länger ein Bündnis, das der Verteidigung verpflichtet ist, sondern sie ist heute ein Interventionsbündnis, das völkerrechtswidrige Kriege und Kriege um die Öl- und Gasfelder des Vorderen Orients führt.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine wahrhaftige Debatte verlangt es, dass wir heute darüber reden. Diese NATO lehnen wir und viele andere ab, die demnächst demonstrieren werden, um sich für Frieden und Abrüstung einzusetzen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen diese NATO durch eine Verteidigungsgemeinschaft ersetzen, durch ein Bündnis kollektiver Sicherheit, das in erster Linie dem Frieden und der Abrüstung verpflichtet ist. Wir wollen ein kollektives Verteidigungsbündnis, das den Begriff der Entspannung wieder in den Vordergrund seiner Politik stellt, wie es bereits im Harmel-Bericht, der schon erwähnt wurde, gefordert worden ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist falsch, Spannungen zu verschärfen, zum Beispiel, indem man einseitig Raketen an der Grenze zu Russland stationiert.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen ein Bündnis, das auf Vertrauensbildung setzt, was ursprünglich einmal vorgesehen war. Es ist falsch, dadurch Misstrauen hervorzurufen, dass man entgegen den Versprechungen, die man beispielsweise Michael Gorbatschow im Zusammenhang mit der Einheit gegeben hat, Zug um Zug weitere Staaten Osteuropas in die NATO aufnimmt; denn dadurch werden alte Einkreisungsängste in Russland wieder wach. Das muss heute zumindest einmal angesprochen werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen ein Bündnis, das die Zusammenarbeit, die Kooperation mit anderen wieder in den Vordergrund seiner Politik rückt; denn Sicherheit ist heute nur gemeinsam zu erreichen. Das gilt im Besonderen für Russland. Wir sind nach wie vor dafür, dass Russland die Mitgliedschaft in einem solchen Bündnis angeboten wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen, dass sich das Bündnis dem Völkerrecht verpflichtet fühlt. Für ein solches Bündnis könnten wir eintreten. Wir müssen das Völkerrecht wieder zur Grundlage der deutschen Außenpolitik und zur Grundlage der Bündnispolitik machen. Wir haben in den letzten Jahren das Völkerrecht zur Seite gelegt, wenn nicht mit Füßen getreten.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie im Inneren eines Staates, so ist auch zwischen den Staaten das Recht die Grundlage des Friedens. Wer das Völkerrecht missachtet, dient dem Frieden nicht, sondern verschärft die Spannungen in der Welt und dient letzten Endes auch nicht den Sicherheitsinteressen unseres Landes.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Völkerrecht wurde im Jugoslawien-Krieg missachtet. Das Völkerrecht wird im Irak-Krieg missachtet. Das hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt und dieser Bundesregierung einen Bruch des Völkerrechts vorgeworfen. Warum redet man nicht darüber?

(Beifall bei der LINKEN - Rainer Arnold (SPD): Die NATO war nicht im Irak!)

- Ich komme gleich darauf zurück. - Das Völkerrecht wird auch in Afghanistan missachtet. Dort werden die Genfer Konventionen nicht beachtet.

Wenn man hier sagt, die NATO führt im Vorderen Orient Öl- und Gaskriege, stößt man auf Skepsis, teilweise auf Empörung. Um dies zu belegen, zitiere ich den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der Demokraten in Amerika, John F. Kerry, der seine Kandidatur mit folgendem Vorhaben verknüpfte:

Wenn ich Präsident bin, werde ich alles daran setzen, alternative Treibstoffe und die entsprechenden Fahrzeuge der Zukunft zu entwickeln, damit dieses Land innerhalb von zehn Jahren vom Öl des Nahen Ostens unabhängig wird und unsere Söhne und Töchter nicht mehr für dieses Öl kämpfen und sterben müssen.

Kann man es klarer formulieren, dass es hier um Öl- und Gaskriege geht? Will man sich dieser Wahrheit einfach verschließen, und will man keine Konsequenzen daraus ziehen, meine Damen und Herren?

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ist dies das viel beschworene Wertebündnis, das hier immer wieder angesprochen wird, ein Bündnis, das auch als gemeinsamen Wert anerkennt, sich mit militärischen Mitteln die Rohstoffe anderer Länder zu sichern? Ist dies die Grundlage dieses Wertebündnisses? Noch in den 80er-Jahren war klar, dass die deutsche Politik ihre Hand niemals zu einer solchen Politik reichen würde. Leider ist dieser Konsens der 80er-Jahre völlig verloren gegangen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Im Mittelpunkt der Diskussion der letzten Jahre stand ein Begriff, der für mich einer der gefährlichsten, ja, wenn man so will, einer der schlimmsten der in der Politik in den letzten Jahren entwickelten Begriffe ist: der Begriff der humanitären Intervention.

Mit einem Satz haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, an die Opfer erinnert, meine beiden anderen Vorredner nicht, und deshalb erinnere ich an dieser Stelle für meine Fraktion an die Opfer. Im Jugoslawienkrieg sind nach unterschiedlichen Angaben 2 000 bis 3 000 Zivilisten Opfer der Bombardierung geworden. In Afghanistan sind im letzten Jahr nach internationalen Angaben über 2 000 Zivilisten ums Leben gekommen, 40 Prozent davon - entschuldigen Sie bitte, ich muss diese Zahl nennen - durch die militärischen Aktionen der NATO und ihrer Verbündeten. Warum reden wir nicht darüber? Warum kam das in einzelnen Reden überhaupt nicht und bei der Kanzlerin lediglich in einem Nebensatz vor? Die Zahl der Toten im Irak geht in die Hunderttausende, wenn nicht über die Jahre hinweg in die Millionen.

An dieser Stelle frage ich noch einmal: Was heißt humanitäre Intervention? Es heißt Dazwischengehen aus Gründen der Menschlichkeit. Diese gesamte Strategie ist total unglaubwürdig, weil beispielsweise jetzt in jedem Jahr 10 Millionen Kinder an Unterernährung sterben, wegen Seuchen und Wasserverschmutzung, weil jedes Jahr 12 Millionen Menschen sterben, die an Krankheiten leiden, die heilbar sind. Wenn wir wirklich humanitär intervenieren wollten, hätten wir hier an dieser Stelle die Möglichkeit, viele Leben zu retten, ohne andere Menschen ermorden und töten zu müssen.

Deshalb ist der Begriff der humanitären Intervention, wenn er das Militärische mit einbezieht, kein Begriff, auf den man die Außenpolitik stützen kann. Deshalb macht er denjenigen moralisch unglaubwürdig, der immer wieder mit zu verantworten hat, dass die großen Menschheitsaufgaben, die mit viel geringerem Aufwand zu lösen wären, ohne dass man andere Menschen ermordet und umbringt, nicht angegangen werden, während er beim Militärischen sofort bereit ist, das Humanitäre in den Vordergrund zu rücken und umfangreiche Mittel dafür aufzuwenden.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Deshalb genügt es nicht, wenn wir immer wieder an die Soldatinnen und Soldaten erinnern, die selbstverständlich nicht selbst entschieden haben, diese Aufgabe zu übernehmen; auch dies stelle ich hier einmal klar. Sie sind dort, weil wir dies beschlossen, weil der Deutsche Bundestag diesen Auftrag erteilt hat, und selbstverständlich haben sie eine schwierige Aufgabe, die Anerkennung findet. Aber wir stehen in der Verantwortung, diese Aufgabe zu hinterfragen.

Wenn jetzt beispielsweise der amerikanische Präsident eine totale Kehrtwende macht und sagt, dieser Krieg sei nicht zu gewinnen, und hinzufügt, wir hätten auch eine Exitstrategie ins Auge zu fassen, dann wundere ich mich, dass darüber überhaupt nicht diskutiert wird.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Damit zeichnet sich doch eine totale Kehrtwende ab.

Wollen Sie erst dann die Konsequenzen ziehen, wenn die anderen sagen, nun bequemt euch bitte endlich, einmal umzudenken? Ich fordere hier für meine Fraktion den Rückzug der Truppen aus Afghanistan. Das ist es, was auch die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland nach wie vor will.

Es ist gut, dass die Bundeskanzlerin hier denjenigen, die für eine andere Außenpolitik, für eine Friedenspolitik demonstrieren, Respekt gezollt hat. Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass sich die Demonstrantinnen und Demonstranten an die Regeln des freiheitlichen Rechtsstaates halten müssen. Dies möchte ich für meine Fraktion nachdrücklich unterstützen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Das gilt aber nicht nur für die Demonstrantinnen und Demonstranten, sondern genauso für die Staaten, die diese Veranstaltung organisieren

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

und die das Demonstrationsrecht nicht in unzulässiger Weise einschränken dürfen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ich grüße von hier aus diejenigen, die für den Frieden demonstrieren wollen. Ich appelliere an sie, die Regeln unseres Rechtsstaates zu beachten. Ich appelliere aber auch an die Regierenden, dafür Sorge zu tragen, dass eines der fundamentalsten Rechte, von dem jetzt so oft gesagt wurde, dass wir es der NATO verdanken, ausgeübt werden kann, nämlich das Recht auf freie Demonstration für Frieden und Abrüstung.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))