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Diese Koalition verhält sich grob fahrlässig im Umgang mit den Interessen von Beschäftigten

Rede von Werner Dreibus,

Werner Dreibus (DIE LINKE) in der Debatte zum Gesetzentwurf zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (so genannte 58-er Regelung)

"Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Weihnachten sollte eigentlich die Zeit froher Botschaften sein.

(Klaus Brandner [SPD]: Du bist doch hier kein Nikolaus! Kein Weihnachtsmann!)

Das denken wir jedenfalls und das ist es auch für viele Menschen. Für 32 000 Beschäftigte der Telekom, wie wir diese Woche erfahren haben, für 1 750 Beschäftigte der AEG in Nürnberg und für viele Tausende von Beschäftigten in anderen Unternehmen wird das Fest der Freude wohl auch in diesem Jahr ein Fest - wenn überhaupt - existenzieller Sorgen sein. Ich betone: existenzieller Sorgen. Auch der Minister hat in seiner Erklärung zu Recht davon gesprochen. Was tut die Koalition, so fragen wir uns, in dieser Situation von angekündigten Massenentlassungen und steigender Arbeitslosigkeit?

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nichts!)

Sie legt einen Gesetzentwurf zum SGB III vor, der aus unserer Sicht arbeitsmarktpolitische Maßnahmen vorsieht, die dem Problem der Massenarbeitslosigkeit in keiner Weise gerecht werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist wohl wahr!)

Was brauchen die betroffenen Menschen, die Beschäftigten, eigentlich? Sie brauchen erstens eine angemessene soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie brauchen zweitens Weiterbildungs- und Vermittlungsangebote - je älter, je mehr -, die ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich verbessern.

(Zuruf der Abg. Ute Kumpf [SPD])

Sie brauchen drittens - auch darüber müssen wir im Zusammenhang mit diesem Artikelgesetz reden - Arbeitsschutzbestimmungen, die ihnen ein menschenwürdiges Arbeiten ermöglichen.

(Beifall bei der LINKEN - Ute Kumpf [SPD]: Alles richtig! Das tun wir ja, Kollege Dreibus!)

In allen drei Belangen war aus unserer Sicht die Politik der alten Bundesregierung mangelhaft. Die verlor auch deshalb ihre politische Mehrheit.

(Beifall bei der LINKEN - Ute Kumpf [SPD]: Na, na, na!)

Nun versuchen die neue Bundesregierung und die neue Mehrheit, das Falsche dadurch zu bekämpfen, dass sie die Dosis der falschen Medizin noch erhöhen, jedenfalls im Bereich der Arbeitsmarktpolitik.

(Beifall bei der LINKEN)

Für andere Bereiche wie Steuerpolitik und Finanzpolitik gilt das ebenso. Ich will Ihnen dafür, bezogen auf den vorliegenden Gesetzentwurf, drei Beispiele nennen: Erstens. Was ist an dem Vorhaben sinnvoll, die Verkürzung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld für Ältere beizubehalten? Ältere haben in der Regel tatsächlich lange in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt. Gleichzeitig haben sie besonders geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Realität ist nun einmal so, auch wenn Herr Kolb versucht, das ideologisch zu rechtfertigen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es geht um die Ursachen!)

Wir meinen, Ältere haben ein Recht - ich sage an dieser Stelle ganz ausdrücklich: ein Menschenrecht - auf einen deutlich längeren Bezug von Arbeitslosengeld als jüngere Menschen.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es gibt auch ein Menschenrecht, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren!)

Es ist arbeitsmarktpolitisch notwendig, die schlechteren Vermittlungsaussichten der älteren Arbeitslosen durch eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I zumindest ansatzweise zu kompensieren. Herr Minister, noch im Sommer dieses Jahres waren Sie - damals noch in anderer Funktion - der gleichen Auffassung. Es gibt mehrere öffentliche Erklärungen von Ihnen dazu. Wenn ich es richtig mitbekommen habe, gilt das auch für so manchen aus der Fraktion der CDU/ CSU, beispielsweise für Herrn Pofalla. Aber damals begann der Wahlkampf. Da ging es um Wählerstimmen. Zweitens. Was ist sinnvoll an einem Vorhaben, den erleichterten Bezug von Arbeitslosengeld für Arbeitslose über 58 Jahre über das Jahr 2006 beizubehalten, wenn Sie gleichzeitig die Kürzungen beim Arbeits-losengeld I nicht zurücknehmen? Wir meinen, die 58er-Regelung ist sinnvoll, auch deren Verlängerung. Sie ist also gut gemeint, aber sie ist nicht gut gemacht; denn der entscheidende zweite Teil - die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes betreffend - fehlt.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie helfen den betroffenen älteren Menschen damit nur wenig. Der Präsident der Bundesagentur für Arbeit hat in der Anhörung zu Recht gesagt, dass die praktische Bedeutung der Verlängerung der 58er-Regelung vor dem Hintergrund der genannten Tatsachen deutlich abnehmen wird, weil Sie gleichzeitig die Kürzungen beim Arbeitslosengeld I nicht zurücknehmen. Drittens. Was ist sinnvoll an dem Vorhaben, die Erstattungspflicht für Unternehmen bei der Kündigung von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu streichen? Wir meinen - Herr Kolb, da weiß ich sehr genau, wovon ich rede; denn ich bin ein Mann aus der Praxis -, die Bundesregierung streicht damit ein zugegeben sehr kompliziertes, aber in der betrieblichen Praxis sehr wohl vorhandenes und auch wirksames Mittel, Druck auf die Unternehmer auszuüben, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Betrieb nicht leichtfertig herauszuwerfen, sondern weiterzubeschäftigen.

(Ute Kumpf [SPD]: Na, na, na!)

Wohlgemerkt, das ist eine komplizierte Regelung; aber das ist immer noch besser als gar keine Regelung.

(Beifall bei der LINKEN)

Dem Haushalt der Bundesagentur für Arbeit werden damit nach Schätzungen der Bundesagentur selber für dieses Jahr weitere 200 Millionen Euro entzogen. Dieses Geld fehlt für Qualifizierung und Vermittlung.

(Klaus Brandner [SPD]: Das ist aber völlig daneben!)

- Das ist am Montag so gesagt worden, Herr Kollege Brandner. - Wenn das die arbeitsmarktpolitische Linie der neuen Bundesregierung ist, dann sollte sich der Arbeitsminister möglicherweise besser Arbeitslosigkeitsminister nennen und seine Reden zur Bedeutung älterer Beschäftigter in diesem Zusammenhang in einem Ordner mit der Aufschrift "Sonntags- und Feiertagsreden" abheften.

(Beifall bei der LINKEN)

Fazit dieses Teils: Eine Verzögerung von Kürzungen und ein Unterlassen notwendiger Schritte ist in der Summe eben keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung.

Ich möchte ein paar Bemerkungen zu dem Thema "Bereitschaftszeit und Arbeitszeit" machen. Zunächst einmal wundere ich mich sehr, Herr Minister, dass Sie selber zu diesem Thema in Ihrer Einleitung gar nichts gesagt haben.

(Beifall bei der LINKEN - Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr richtig!)

Für meine Begriffe ist dies exemplarisch dafür, wie grob fahrlässig sich die Koalition im Umgang mit den Interessen von Beschäftigten und ihrer Verantwortung für beschäftigungsförderliche Rahmenbedingungen verhält. Ärzte, Krankenschwestern, Feuerwehrleute und andere Beschäftigtengruppen leiden seit langem unter überlangen Arbeitszeiten, die aus der Kombination von Normalarbeitszeit, Mehrarbeit und Bereitschaftsdiensten resultieren. Um hier Abhilfe zu schaffen, wurde unter anderem bereits im Jahr 1993, also vor zwölf Jahren, in der europäischen Arbeitszeitrichtlinie festgelegt, dass Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit zu werten sind. Damit kann und soll das von den betroffenen Beschäftigten tatsächlich geleistete Arbeitspensum auf ein gesundheitsverträgliches Maß begrenzt werden.

(Ute Kumpf [SPD]: Sie haben auch eine begrenzte Redezeit!)

Angesichts der Zeitspanne von zwölf Jahren - das sind ja nicht nur ein paar Wochen -, die seit 1993 zur Umsetzung dieser Richtlinie zur Verfügung gestanden hat, ist Ihre Begründung für die weitere Verlängerung der Übergangsfrist falsch und entlarvend.

(Beifall bei der LINKEN)

Die erneute Verlängerung räumt den Tarifparteien nicht mehr Zeit ein, diese Richtlinie in Tarifverträgen zu berücksichtigen, wie Sie zur Begründung anführen; es passiert nichts anderes, als dass den Arbeitgebern ein weiteres Jahr Gelegenheit gegeben wird, auf dem Rücken von Beschäftigten und Patienten zu sparen. (Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, Sie müssen bitte dringend zum Schluss kommen.

Werner Dreibus (DIE LINKE): Eine Bemerkung zum Schluss. - Diese Reparatur und alle weiteren Reparaturen an den Hartz-Gesetzen ändern nichts an der verheerenden Bilanz Ihrer so genannten Jahrhundertreform. Sie - ich wende mich hier vor allem an die sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen - wollten eine epochale Wende der Arbeitsmarktpolitik herbeiführen. Mit dem, was Sie bisher getan haben, und mit der Reparatur jetzt ist das weitere Desaster eher vorprogrammiert. Das ist dann das eigentlich Epochale an Ihrer Reform. Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege Dreibus, das war Ihre erste Rede in diesem Hause. Dazu gratulieren wir alle Ihnen und wünschen für die parlamentarische Arbeit alles Gute.

(Beifall)"