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Die Rückkehr zum Armenrecht

Rede von Wolfgang Neskovic,

Ein unstrittiges Prinzip der Gerechtigkeit ist es, dass die Folgen eines Übels grundsätzlich nur den treffen dürfen, der dieses Übel auch durch sein Handeln zu verantworten hat. Dieses wichtige Prinzip wird durch die Hartz IV Gesetzgebung verletzt. Denn die ganz überwiegende Zahl der Erwerbslosen ist gänzlich unverschuldet in Not geraten. Und das genannte Prinzip droht erneut massiv verletzt zu werden: aktuelle Gesetzentwürfe des Bundesrates zur Beschneidung der Prozesskostenhilfe und zur Abschaffung der Gebührenfreiheit an den Sozialgerichten bezwecken es, dem Leistungsempfänger den Zugang zu den Gerichten zu erschweren. Es droht die Rückkehr zum Armenrecht.

Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ein unstrittiges Prinzip der Gerechtigkeit besteht darin, dass die Folgen eines Übels grundsätzlich nur den treffen dürfen, der dieses Übel durch sein Handeln zu verantworten hat. Die Suche nach dem richtigen Recht ist deswegen immer identisch mit der Suche nach Gerechtigkeit.
Ich frage mich, ob sich dieses Haus bei der Gesetzgebung noch diesem, wie ich finde, sehr einfachen und klaren Grundsatz verpflichtet fühlt. Ich erinnere mich gut an die öffentlichen Kommentierungen der Beratungen und Beschlussfassungen der Hartz-IV-Gesetze seitens der Politik. Die Kürzungen am Sozialstaat wurden mit einer Art befremdlichem Stolz auf die eigene Härte verkündet. Man sollte den Eindruck erhalten, es habe sich endlich jemand aufgerafft und den Mut gefunden, das Schwere, das Unbeliebte zu tun, weil es die Zeit und ihre Umstände erforderten.
Die Zeit und ihre Umstände sind von einer anhaltenden Massenarbeitslosigkeit gekennzeichnet. Die Automatisierung von Arbeitsabläufen durch Computer und Roboter macht, unter den Bedingungen des von Ihnen präferierten Wirtschaftssystems, menschliche Arbeit zunehmend entbehrlich. Die Globalisierung des Arbeitsmarktes führt zu einer Verschiebung von Arbeitsplätzen aus den klassischen Industrieländern in die Schwellenländer der Welt.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Juristen sollten sich nicht zu ökonomischen Sachverhalten äußern, zumindest nicht Sie, Herr Neškovic)

Ganz überwiegend aufgrund dieser Entwicklungen stehen die Töchter und Söhne der einst händeringend gesuchten Industriearbeiter heute ohne Erwerbsarbeit da. Noch im Jahre 1999 stellte die sozialdemokratische Justizministerin, Frau Dr. Herta Däubler-Gmelin, im „Vorwärts“ fest, es käme nun darauf an, die Schwachen zu schützen. Für Erinnerungsschwache eine Seh- und Erinnerungshilfe aus dem „Vorwärts“.

(Der Abgeordnete hält einen Artikel hoch: „Die Schwachen schützen“)

Wörtlich heißt es:
Deshalb stehen der Schutz der Schwachen durch das Recht und die Grundwerte des Sozial- und Rechtstaates im Vordergrund meiner Politik.
Das finde ich gut. Das findet unsere Unterstützung.

(Beifall bei der LINKEN Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Wann kommen die Trikots dran?)

Die rot-grüne Koalition hingegen reagierte auf die geschilderte Entwicklung ganz anders. Sie antwortete auf die Fragen der Zeit mit einer hilflosen Doppelstrategie: Einerseits versuchte sie vergeblich, den Verbleib von Unternehmen im Inland durch Anreize zu befördern, zum Beispiel indem sie die Steuern für Unternehmen und Bezieher hoher Einkommen senkte. Sie verzichtete damit „erfolgreich“ auf staatliche Einnahmen in Milliardenhöhe, die heute nicht zuletzt bei der Finanzierung der Sozialsysteme fehlen.
Zweitens verringerte und verringert die alte und neue politische Mehrheit die individuell gewährten sozialen Leistungen des Staates. Sie setzt dem breiten Bedarf an staatlicher Unterstützung möglichst schmale Ausgaben entgegen. Vielleicht möchten Sie nun einwenden, die deutsche Politik könne schließlich nichts für die veränderten Umgebungsvariablen ihrer Entscheidungen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist kein unkluger Einwand!)

Automatisierung und Globalisierung hätten doch nicht die deutsche Politik zu verantworten und es sei schließlich aussichtslos, diese Prozesse zu blockieren.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Jetzt wird es ein bisschen trivial!)

Vielleicht ist das ein Teil der Wahrheit. Es ist aber höchstens ein Teil und nicht ihr Kern. Niemand könnte weniger Einfluss auf die sich ändernde Ökonomie haben als die Erwerbslosen dieses Landes, ihre Familien und ihre Kinder. Sie sind ohne Einfluss und ohne Schuld, werden aber dennoch bestraft; denn sie treffen die Folgen der geschilderten Entwicklung zwei Mal mit aller Kraft. Der erste Schlag ist die Arbeitslosigkeit und die Abhängigkeit von staatlicher Hilfe.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Fangen Sie einmal mit Rechtspolitik an!)

Der zweite Schlag ist die Kürzung der staatlichen Hilfe in dieser Situation. Diesen zweiten Schlag führen Sie. Er ist politisch gewollt. Politische Entscheidungen haben sich auch vor den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu verantworten.

(Beifall bei der LINKEN - Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Jetzt zur Rechtspolitik!)

Es ist ein unbezweifelbares Prinzip der Gerechtigkeit, dass die Folgen eines Übels niemals den treffen dürfen, der zu diesem Übel keine Ursache gesetzt hat. Hartz IV verletzt dieses Prinzip. Auch die neuerliche Verschärfung von Hartz IV verletzt dieses Prinzip. Dieses Prinzip droht nun erneut verletzt zu werden. Vermutlich noch im Herbst werden wir über zwei Entwürfe des Bundesrates zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und zur Begrenzung der Prozesskostenhilfe zu entscheiden haben.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Jetzt kommen wir wenigstens zur Rechtspolitik!)

Diese Entwürfe sind ebenfalls in jenem Geist des Stolzes auf die eigene Härte geschrieben. Auch Sie schmücken sich eitel damit, den Mut für das längst Überfällige aufzubringen.
Das PKH-Begrenzungsgesetz bezweckt, die Prüfung von Prozesskostenhilfe auch für große Teile der ärmeren Bevölkerungsschichten von einer Bearbeitungsgebühr von 50 Euro abhängig zu machen. Hier wird die unrühmliche Idee der Praxisgebühr im Gesundheitswesen in gesteigerter Form auf den Zugang zu den Gerichten übertragen. Diese und die weiteren beabsichtigten Veränderungen laufen letztlich darauf hinaus der VdK stellte das in einer Presseerklärung am 17. Juli 2006 fest, das vor 26 Jahren abgeschaffte Armenrecht wieder einzuführen. Die Entwurfsersteller wollen mit längst überwundenen Konzepten aus der Vergangenheit dieses Land fit für die Zukunft machen. Das muss scheitern. Anachronismus gestaltet keine Zukunft.

(Beifall bei der LINKEN - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Die anachronistische Fraktion sitzt dort drüben! Der gehören Sie an!)

Das Sozialgerichtsänderungsgesetz sieht darüber hinaus vor, eine allgemeine Gebühr für klagende Bürger einzuführen. Grundsätzlich soll diese Gebühr im Fall des Unterliegens 75 Euro betragen. Während also Hartz IV und seine Verschärfung die Erwerbslosen auf das absolute Minimum der Lebensführung zurückdrängen, bezwecken diese Entwürfe, den Leistungsempfänger dazu zu bewegen, darauf zu verzichten, um die Rechtmäßigkeit seines Leistungsbescheides zu prozessieren.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Jetzt kommt die Verschwörungstheorie!)

Wer am Existenzminimum lebt, führt kein Sparbuch für mögliche Rechtsstreitigkeiten. Wer wenig im Leben hat, braucht viel im Recht. Er ist ohne staatliche Hilfe praktisch völlig rechtlos, wenn es zum Streit kommt.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Welchen Anteil haben die Ölmultis daran?)

Ich sehe keinen Anlass zu dem geschilderten Stolz auf die eigene Härte. Ich kann bei denjenigen, die diese Gesetzgebung zu verantworten haben, und bei denjenigen, die die geschilderten Entwürfe auf den Weg gebracht haben, keinen Mut ausmachen. Die Kürzung der sozialen Leistungen und nun auch der Rechtsweggarantie treffen die Schwachen und Schwächsten der Gesellschaft.

(Beifall bei der LINKEN)

Welcher Mut gehört dazu, von denen zu nehmen, die sich kaum wehren können? Welchen Mut bringt man auf, wenn man ihnen auch noch die gerichtliche Gegenwehr nimmt? Was ist das für ein Mut, der sich darin gefällt, das Ungerechte zu tun? Mut hätte es erfordert, eine Gesetzgebung auf die Beine zu stellen, aus der heraus die Menschen dieses Landes die Folgen des von mir eingangs beschriebenen ökonomischen Wandels gemeinsam tragen. Mut hätte es erfordert, zur Abfederung der Belastungen des sozialen Systems die Bezieher hoher und höchster Einkommen heranzuziehen. Es wäre gerecht gewesen, so zu verfahren. Diesen Einkommensgruppen bescheren die Effektivierung der Produktion und die Erschließung globaler Märkte jährlich beachtliche Gewinne. Diese Strategie hätte den Willen der Gesellschaft zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit an der richtigen Stelle auf die Probe gestellt. Diese Strategie hätte echten Anlass zu Stolz gegeben.

(Beifall bei der LINKEN)

Nur so hätten Sie Ihre Mutfähigkeit im sozialen und im christlichen Sinne und den sich daraus ergebenden notwendigen Willen zur sozialen Gerechtigkeit unter Beweis stellen können.
Ich habe am 1. Juli 2006 einen Brief von einem Göttinger Bürger erhalten, aus dem ich zum Abschluss zitieren möchte:

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sehr gut! Abschluss!)

Ich habe, während ich aufwuchs, gelernt, was soziale Verantwortung meint und bedeutet.

(Unruhe)

Haben Sie doch wenigstens so viel Respekt, einem Bürger, der mir geschrieben hat, zuzuhören.

(Beifall bei der LINKEN Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ich höre Ihnen zu, Herr Neskovic!)

Der Geist des Grundgesetzes, so wie ich es verstanden habe, gab mir bei diesem Gefühl stets Recht. Da ging es um Fairness und wer kann schon gegen Fairness sein? Ich wähnte mich auf einem Eiland, wo Verstand, Recht und Gerechtigkeit Hand in Hand gehen, an einem Platz, wo das Parlament oder sogar die Regierung ... moralisch gewachsen war. Aber offenkundig gehen solche Erkenntnisse und Errungenschaften verloren.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wir kriegen gleich alle einen Hörerschein! Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Es wäre gut, wenn Sie sich solche Gedanken zu Herzen nehmen würden. Das wäre etwas für Ihr Kopfkissen bzw. für morgens nach dem Aufwachen.

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Das fehlte gerade noch! Ich will wegen Ihnen keine Albträume kriegen!)

Sie erodieren, wenn sie nicht fortwährend ... verteidigt werden. Tatsächlich nehme ich heute wahr, dass fundamentale Grundprinzipien des Zusammenlebens in diesem Land offen von der regierenden Politik torpediert werden.

(Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ist damit vielleicht der Berliner Senat mit seinem Sozialabbau gemeint?)

Abschließend möchte ich feststellen: Mir ist nicht entgangen, dass die Bundesregierung zu den hier kritisierten Gesetzentwürfen zur PKH-Begrenzung und zur Sozialgerichtsgebühr ihrerseits kritische bis ablehnende Stellungnahmen abgegeben hat.

(Joachim Stünker (SPD): Das hätten Sie gleich sagen sollen!)

Frau Zypries, ich kann Ihnen nur die Kraft wünschen,

(Zuruf von der SPD: Danke! Aber die haben wir schon!)

bei dieser Notbremsung zu bleiben, damit der schon erwähnte sozialdemokratische Grundsatz, die Schwachen zu schützen, nicht endgültig im Museum sozialdemokratischer Grundwerte verschwindet.
Vielen Dank.