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Die Kernnormen von Hartz IV sind verfassungswidrig

Rede von Katja Kipping,

Folgerungen aus dem heutigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Regelleistungen Hartz IV

Katja Kipping (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute hat das Bundesverfassungsgericht zu den Hartz IV Regelleistungen geurteilt. In diesem Urteil heißt es: Das Arbeitslosengeld II für Erwachsene sowie das Sozialgeld für Kinder genügen nicht dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Im Klartext heißt das: Die Kernnormen von Hartz IV sind verfassungswidrig. Ich finde, das ist eine schallende Ohrfeige für alle Parteien, die Hartz IV mit zu verantworten haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Nach diesem Urteil gibt es nun einen Überbietungswettbewerb. Die FDP meint, das Urteil sei eine Ohrfeige allein für Rot Grün. Die Ministerin mit CDU Parteibuch tut so, als ob sie dieses Urteil geradezu herbeigesehnt bzw. herbeigebetet hätte. Kurzum: Man hat das Gefühl, dass es keiner so recht gewesen sein will, wenn es um Hartz IV geht. Da wundert man sich doch, wie das Ganze überhaupt auf die Welt gekommen ist.
Vor diesem Hintergrund sollten wir in Erinnerung rufen: Den Grundsatz von Hartz IV haben vier Fraktionen des Bundestages mitgetragen, nämlich die von FDP, CDU/CSU, SPD und Grünen. Da die Sozialministerin nun so tut, als hätte sie dieses Urteil gewollt, wollen wir deutlich machen, dass es Betroffene waren, die dieses Urteil erkämpft haben. Wir wollen auch daran erinnern, dass die Union Hartz IV nicht nur mitgetragen hat, sondern sich noch in der letzten Wahlperiode dafür eingesetzt hat, dass das Sanktionsregime verschärft wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie uns festhalten: Die Hartz IV Parteien haben nicht nur Millionen Menschen in Armut und Ausgrenzung per Gesetz getrieben. Nein, sie sind offensichtlich noch nicht einmal in der Lage, verfassungskonforme Gesetze zu verabschieden. Es handelt sich immerhin um das zweite Urteil in höchster Instanz, das ihren Gesetzen Verfassungswidrigkeit bescheinigt. Bei diesem Tatbestand ist man geneigt, dem Verfassungsschutz zuzurufen: Kümmert euch doch einmal ein bisschen um diese Bundesregierung. Ganz offensichtlich hat sie Probleme, die Bestimmungen des Grundgesetzes einzuhalten.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Na! Na! Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer im Glashaus sitzt! )

Das Bundesverfassungsgericht hat heute nur über das Verfahren entschieden. Das Existenzminimum stellt die unterste Grenze dar, die nicht unterschritten werden soll. Das Gericht hat aber auch deutlich gemacht, dass oberhalb dieser untersten Grenze ein Gestaltungsspielraum besteht. Diesen sollten wir als Bundestag nutzen; denn das verfassungswidrige Sanktionsregime Hartz IV ist nicht alternativlos. Die Linksfraktion hat gestern einen Antrag formuliert, mit dem wir uns klar dafür einsetzen, dass der Regelsatz auf 500 Euro erhöht wird, dass die Sanktionsparagrafen ebenso wie das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft gestrichen werden, und mit dem wir uns für einen Mindestlohn einsetzen. Kurzum, wir fordern Sie auf: Sagen Sie Ja zu einer sanktionsfreien, armutsfesten Mindestsicherung! Sagen Sie Ja zu unserer Alternative zu Hartz IV!

(Beifall bei der LINKEN)

Auf einen Kritikpunkt des Bundesverfassungsgerichts will ich im Detail eingehen, und zwar auf folgenden: Noch folgt die jährliche Anpassung der Regelsätze dem aktuellen Rentenwert. Das heißt, wenn die Rente steigt, steigt prozentual auch das Arbeitslosengeld II. Die Linke hat schon immer darauf hingewiesen, dass nicht der Rentenwert das entscheidende Kriterium sein sollte, sondern die Lebenshaltungskosten. Im Klartext: Wenn die Preise für Brot, für Strom oder für den Bus steigen, dann muss im selben Maße die Grenze des Existenzminimums angehoben werden. Das Bundesverfassungsgericht gibt es Ihnen heute schwarz auf weiß, indem es sagt, dass der Rentenwert der falsche Bezugspunkt für die Berechnung des Existenzminimums ist. Diese Blamage hätte Ihnen erspart bleiben können, wenn Sie eher Anträgen der Linksfraktion zugestimmt hätten.

(Beifall bei der LINKEN)

Heute ist ein guter Tag; denn Betroffene haben sich zur Wehr gesetzt und gezeigt, dass es sich lohnt, für seine Rechte zu kämpfen.

(Beifall bei der LINKEN)

Heute ist ein guter Tag; denn der heutige Tag ist auch ein Festtag für die Idee der sozialen Teilhabe. Das Bundesverfassungsgericht hat eindeutig klargestellt: Die Gewährleistung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ist nicht eine Frage der Mildtätigkeit oder Großzügigkeit des Parlaments, sondern ein Verfassungsgebot. Wenn man manch einen Wirtschaftslobbyisten oder den hessischen Ministerpräsidenten mit CDU-Parteibuch in den letzten Tagen gehört hat, dann hatte man das Gefühl, vom Sozialstaatsgebot könne beliebig abgewichen werden. Als ob die Prinzipien unserer Verfassung Rezepte wären, von denen man beliebig abweichen kann! Unsere Verfassung ist kein Kochbuch, sondern unsere Verfassung schreibt das Sozialstaatsprinzip fest, und das ist nicht verhandelbar. Die Gewährleistung des Existenzminimums ist eine Pflicht, die nicht zur Verhandlung steht.

(Beifall bei der LINKEN)

Dabei geht es nicht nur - auch das hat das Bundesverfassungsgericht unterstrichen - um das physische Existenzminimum, sondern es geht auch um Teilhabe am kulturellen und politischen Leben. Kurzum, es geht nicht nur um Essen, Strom und Seife, sondern es geht auch um den Telefonanschluss, die Zeitung und den Besuch bei Freunden; denn - so wortwörtlich das Bundesverfassungsgericht - „der Mensch … existiert notwendig in sozialen Bezügen …“. Meine Damen und Herren, ich fordere Sie auf: Nehmen Sie dieses Urteil ernst!
Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)