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Die Einheit von Freiheit, Demokratie, sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit herstellen

Rede von Gregor Gysi,

Rede zum 9. November 1989

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Vor dem Fall der Mauer fand die legendäre Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz statt. Diese Kundgebung war selbstbestimmt, souverän, kulturvoll und hatte viel Humor. Damals ging es um eine grundlegende Reform der DDR; die Hauptlosung aber lautete: keine Gewalt. Das galt auch später bei der Maueröffnung und für die gesamte friedliche Revolution. Es ist eine historische Leistung aller Beteiligten in der DDR, dass es damals zu keinem Zeitpunkt Gewalt gab.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die DDR war eine Diktatur, sie war kein Rechtsstaat. In ihr gab es staatlich angeordnetes, auch grobes Unrecht. Der wachsende Mut der Bürgerinnen und Bürger der DDR resultierte auch daraus, dass man die Sowjetunion nicht mehr gegen sich, sondern hinter sich wusste, und glaubte, es allein mit der SED-Führung aufnehmen zu können - zu Recht. Nach dem Fall der Mauer ging es dann um die Überwindung der Spaltung Deutschlands und Europas.
Der Fall der Mauer war für die Bürgerinnen und Bürger der DDR ein ungeheurer Befreiungsakt. Niemals vorher und nachher habe ich so überglückliche Gesichter im Fernsehen gesehen wie in dieser Nacht. Es ist nicht hinnehmbar, wenn einer Bevölkerung gesagt wird, dass, abgesehen von bestimmten erlaubten Dienstreisen oder von einigen dringenden Familienangelegenheiten, nur Invaliden- sowie Altersrentnerinnen und Altersrentner den Westteil der Stadt Berlin, Hamburg, München, Stuttgart, Paris oder London sehen dürfen. In der Regel bedeutete das für Frauen, dass sie 60 Jahre, und für Männer, dass sie 65 Jahre alt werden mussten, bis sie sich den größeren Teil der Erde anschauen durften. Für sie war der Westen fast so weit weg wie der Mond.
Der Fall der Mauer veränderte aber auch das Leben der Westdeutschen, der Europäerinnen und Europäer und führte weltweit zu neuen Strukturen. Beim Fall der Mauer gab es nämlich genau so glückliche Gesichter im Westteil der Stadt Berlin wie in der alten Bundesrepublik.

Das Problem ist - das will ich hier offen sagen -, dass wir statt der Vereinigung einen Beitritt hatten. Die Bundesregierung konnte nicht aufhören, zu siegen, und hat sich deshalb im Osten nichts angesehen. Wenn man Dinge wie das Kindertagesstättennetz, die Polikliniken, jetzt Ärztehäuser, oder die Berufsausbildung mit Abitur oder einige andere Punkte übernommen hätte   vieles musste verschwinden  , dann hätte das das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestärkt und hätte vor allem dazu geführt, dass die Westdeutschen mit der Vereinigung eine Qualitätssteigerung erlebt hätten, was ihnen nicht gegönnt wurde.

(Beifall bei der LINKEN)

Dadurch entstand bei den Westdeutschen die Illusion, für sie bleibe alles, wie es war. Aber nicht nur die DDR ist verschwunden, sondern auch die alte Bundesrepublik. Damit hängen auch einige Enttäuschungen zusammen. Die alte Bundesrepublik war sozialer als die vereinte. Die alte Bundesrepublik hätte, im Unterschied zur vereinten, niemals Krieg geführt.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Zurück zu Ostdeutschland. In der Super Illu vom 9. Oktober 2014 ist eine interessante Umfrage veröffentlicht. Danach schätzt eine Mehrheit der Ostdeutschen ein, dass es ihr in zehn Punkten deutlich besser geht als in der DDR, in zehn Punkten wird das Gegenteil behauptet.
Die zehn Punkte, in denen es ihnen nach eigener Einschätzung besser geht, beziehen sich in der Reihenfolge nach den Mehrheiten auf das Warenangebot, den Urlaub, die Weltoffenheit, die Meinungsfreiheit, die Entscheidungsfreiheit der Einzelnen und des Einzelnen, die Wohnverhältnisse, den Umweltschutz, die Selbstverwirklichung und die Verwirklichung der Menschenrechte.

Wir müssen allerdings auch zur Kenntnis nehmen, in welchen zehn Punkten die Mehrheit der Ostdeutschen meint, dass es ihr diesbezüglich in der DDR besser gegangen sei. Wiederum in der Reihenfolge nach den Mehrheiten bezieht sich das auf sichere Arbeitsplätze, die sicheren, niedrigen Mieten, die Kinderbetreuung, den Gemeinschaftssinn

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

  ich sage ja nur, was die Ostdeutschen denken. Ich sage gar nicht, dass ich es teile  , die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Sportförderung,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Dopingförderung!)

den Zusammenhalt der Familien, die soziale Gerechtigkeit und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern.

Abgesehen von interessanten kulturellen Momenten bringt das im Kern doch eines zum Ausdruck. Die Ostdeutschen wollen beides: die Freiheit der Bundesrepublik und höhere soziale Sicherheit und Gerechtigkeit, wie sie sie von früher kannten. Es gilt aber für alle Menschen in Deutschland folgender Zusammenhang: Soziale Sicherheit und Gerechtigkeit ohne Freiheit taugen ziemlich wenig.

(Beifall bei der LINKEN)

Freiheit ohne soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit verliert an Bedeutung, sie ist zum Teil nicht nutzbar.

Wir alle hier im Saal sind privilegiert. Unsere Meinung können wir ziemlich öffentlich verkünden, die meisten Menschen nur untereinander. Wir können es uns leisten, nach London, New York oder Paris zu reisen; für viele ist dies nicht bezahlbar. Deshalb ist es so wichtig, die Einheit von Freiheit, Demokratie, sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit herzustellen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen endlich gleiche Lebensqualität in Ost und West. Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit in gleicher Arbeitszeit in Ost und West bezahlt wird. Es ist doch nicht zu viel verlangt, dass endlich die gleiche Rente für die gleiche Lebensleistung in Ost und West bezahlt wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist auch nicht zu viel verlangt, dass man bei der Mütterrente für ein Ostkind nicht weniger bekommt als für ein Westkind.

(Beifall bei der LINKEN   Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Jetzt reicht es! Echt!)

Ich möchte den Respekt für die Lebensleistungen in den Biografien, und zwar in Ost und West gleichermaßen.

Die Mauer ist gefallen. Sie muss, soweit noch vorhanden, endlich auch in den Köpfen überwunden werden. Meiner Generation ist das zum Teil schwergefallen, in der Generation meiner 18-jährigen Tochter ist das überhaupt kein Problem mehr.

Ich meine, die Mauern müssen generell fallen, und wir dürfen keine neue errichten. Damit meine ich die Mauer zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen weltweit und in unserer Gesellschaft, die Mauer zwischen Armen und unvorstellbar Reichen weltweit und in unserer Gesellschaft und auch die Mauer an den Außengrenzen der Europäischen Union.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir dürfen nicht die Flüchtlinge bekämpfen, sondern wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen. Außerdem hat man Flüchtlinge einfach anständig zu behandeln.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie mich zum Schluss einen Wunsch äußern: Die große Feier zum 25. Jahrestag der Deutschen Einheit im nächsten Jahr sollte außerhalb der Regel in Leipzig begangen werden. Leipzig hat sich das verdient.

(Beifall bei der LINKEN)