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Die eigenständige Existenzsicherung von Stiefkindern sicherstellen

Rede von Katja Kipping,

§ 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II reformieren

Anrede,

durch das SGB-II-Fortentwicklungsgesetz ist § 9 Abs. 2 Satz 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch in einer nicht zu akzeptierenden Weise verändert worden. Denn seit dem 1. August 2006 ist bei Kindern nunmehr das Einkommen und Vermögen von Personen, die mit einem Elternteil eine Bedarfsgemeinschaft bilden, zu berücksichtigen. Durch diese Regelung ist die Existenzsicherung von Stiefkindern in einer verfassungswidrigen Weise gefährdet worden. Das Gebot zur Sicherung des Existenzminimums aus Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot des Artikels 20 GG wird für das Stiefkind oder die Stiefkinder gebrochen. Das sieht unter anderem auch das Sozialgericht Berlin so und hat in seinen Ausführungen zum Inhalt des Sozialstaatsprinzips betont (SG Berlin S 103 AS 10869/06 ER vom 08.01.2007). Ich zitiere:
„Das Gebot dieses Sicherungsauftrags [Anmerkung: aus dem Sozialstaatsgebot] wird durch § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II nicht mehr verfassungskonform umgesetzt, weil die Regelung allein die schematische Anrechnung von Einkommen zum Inhalt hat, ohne dass darauf Rücksicht genommen wird, ob das Existenzminimum des jeweiligen Kindes tatsächlich durch entsprechenden Einkommenszufluss durch den Stiefpartner gesichert ist. Soweit tatsächlich die Versorgung auf dem Niveau, das dem verfassungsrechtlichen Existenzminimum entspricht, verweigert wird, stehen dem Kind keinerlei Möglichkeiten zur Verfügung, zu einer tatsächlichen Deckung seines Bedarfs zu gelangen. Durch diese Regelung überschreitet der Gesetzgeber den ihm zustehenden weiten Gestaltungsspielraum. Schließlich ist die Regelung auch nicht einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich.
Die Antragstellerinnen verweisen zunächst zutreffend darauf, dass dem Kind ein zivilrechtlicher Unterhaltsanspruch gegen den neuen Partner seines Elternteils nicht zusteht. Dem Kind steht auch kein anderer Weg offen, eine tatsächliche Bedarfsdeckung im Falle der Weigerung der Leistung durch den Partner, wie Herr C. sie hier erklärt hat, zu erreichen. Insoweit unterscheidet sich die Lage des Kindes von der eines Partners in der (früher so bezeichneten) eheähnlichen Lebensgemeinschaft, weshalb die Anerkennung der Einkommensanrechnung zwischen den Partnern selbst kein Argument für die Erstreckung auf die nicht leiblichen Kinder ist. Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für die dem Kind insoweit verweigerte Sicherung des Existenzminimums ist der Kammer nicht ersichtlich.
Diesem Ergebnis kann nicht entgegen gehalten werden, dass das Elternteil sich im Interesse des Kindes von dem Partner trennen kann, um so wieder einen staatlichen Leistungsanspruch zu begründen. Ein solcher mittelbarer Zwang, der in seiner Intensität hinter einem unmittelbaren Eingriff nicht zurückbleibt, zur Beendigung einer Beziehung würde das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG des Elternteils beeinträchtigen, ohne dass dies verfassungsrechtlich gerechtfertigt wäre. Es bestehen bereits Zweifel, ob ein solcher Regelungsmechanismus geeignet wäre, die Ziele des Gesetzgebers zu erreichen. Ausweislich der parlamentarischen Beratungsunterlagen war die Erzielung von Einsparungen ein wesentliches Ziel des Gesetzgebers.
Die Beendigung von Partnerschaften aufgrund der Einbeziehung von Kindern in die Einkommensanrechnung in so genannte Patchworkfamilien würde dazu führen, dass sowohl Kinder als auch einkommenslose Elternteile Leistungsansprüche erwerben würden. Hiermit wären zwingend Mehrkosten für einen Teil der Leistungsberechtigten verbunden. Selbst wenn man insoweit dem Gesetzgeber hinsichtlich der tatsächlichen Auswirkungen eine Einschätzungsprärogative zugesteht, ist die Erzielung von Einsparungen als Rechtfertigung einer Unterschreitung des Existenzminimums eines Kindes ungeeignet.“

Zudem ist eine solche Unterhaltspflicht im bürgerlichen Recht laut der §§ 1601 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs nicht vorgesehen. Das Sozialrecht konstituiert also mit der Regelung de facto eine neue Unterhaltspflicht. Ich habe erhebliche Bedenken, ob die neue Fassung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II mit dem grundgesetzlichen Existenzsicherungsauftrag nach Artikel 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot (Artikel 20 GG) vereinbar ist. Die neue Regelung legt schematisch fest, dass das Einkommen und Vermögen des Stiefelternteils anzurechnen ist, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob und inwieweit ein Einkommenszufluss tatsächlich stattfindet; sie konstruiert es also nur. Soweit eine Unterstützung dem Stiefkind faktisch verweigert wird, stehen dem Kind keinerlei Möglichkeiten zur Verfügung, zu einer tatsächlichen Deckung seines Bedarfs zu gelangen, denn zivilrechtliche Ansprüche gegenüber dem Stiefelternteil bestehen nicht. Die sozialrechtlichen Ansprüche werden aber mit Verweis auf das Stiefelternteil verweigert. Das Kind hat auch keine Möglichkeit die Bedarfsgemeinschaft zu verlassen und dadurch einen eigenständigen Sicherungsanspruch zu begründen. Damit ist der Auftrag zur Sicherstellung des Existenzminimums für das betroffene Stiefkind gefährdet.
Aber auch für verheiratete Partner hat die Neuregelung durch das SGB-II-Fortentwicklungsgesetz eine nicht akzeptable Änderung gebracht. Rechtlich gesehen das Stiefelternteil mit der Heirat eine Schwägerschaft mit dem Kind des Partners oder der Partnerin ein. Der verheiratete neue Partner begründet mit dem Stiefkind eine Haushaltsgemeinschaft nach § 9 Abs. 5 SGB II. Für eine Haushaltsgemeinschaft wird aber nun vermutet, dass eine Unterstützung des bedürftigen Mitglieds, also in der Regel des Kindes, der Haushaltsgemeinschaft stattfindet. Mit der Neuregelung wurde die Möglichkeit der Widerlegung der Vermutung abgeschafft. Auch in diesem Fall gilt die oben aufgeführte Bewertung als verfassungswidrig, weil dem Kind bei Verweigerung einer Unterstützung keine Möglichkeit offen steht, den eigenen Bedarf zu decken. Darüber hinaus gibt es bei einer Eingliederung in deine Bedarfsgemeinschaft - im Gegensatz zum Unterhaltsrecht - keinen Selbstbehalt beziehungsweise keinen Freibetrag für den Einkommensbeziehenden, das sind zumeist die Väter.

Anrede,

aus diesen Darstellungen ist unschwer zu erkennen, dass faktisch ein „Familienzerstörungsgesetz“ geschaffen wurde, welches zudem Betroffene auch noch in die Verschuldung treibt. Auch haben Familien berichtet, dass sich nach der Einführung des Fortentwicklungsgesetzes bei Ihnen vor Ort betroffene Familien zusammengefunden haben und aktuell ist die Lage so, dass schon ein Teil dieser Familien aus Deutschland ausgewandert ist, weil sie angesichts den hiesigen Bedingungen keine Hoffnungen mehr auf eine Zukunft in Deutschland hatten.

Anrede,

das ist für uns nicht akzeptabel. Die Neuregelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II, nach der Einkommen und Vermögen der Stiefeltern bei der Bedarfsberechnung des Kindes zu berücksichtigen sind, muss daher so schnell wie möglich zurückgenommen werden, bevor das Bundesverfassungsgericht sie als verfassungswidrig verwerfen wird. Stattdessen gilt es, eine eigenständige Existenzsicherung von Stiefkindern zu etablieren.