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Deutschland muss neutral sein

Rede von Oskar Lafontaine,

Debatte über den Antrag der Bundesregierung über die Entsendung bewaffneter deutscher Truppen in den Nahen Osten im Rahmen des UN-Einsatzes

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte noch einmal die Gründe vortragen, warum meine Fraktion den Antrag der Bundesregierung ablehnt. Ich beginne mit einem Satz der Bundeskanzlerin, der im Grunde genommen schon deutlich macht, warum wir diesen Antrag ablehnen müssen. Die Bundeskanzlerin sagte nämlich - dieser Satz war typisch -: „Im Nahen Osten ruhen die Waffen.“

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Wie kann man sagen, im Nahen Osten ruhen die Waffen? Dies zeigt, dass die Herangehensweise an die Frage, die wir heute zu stellen haben, dadurch gekennzeichnet ist, dass man relevante Daten ausblendet, nicht zur Kenntnis nehmen will und daher schlicht und einfach zu völlig falschen Ergebnissen kommt.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage, meine Damen und Herren: Im Nahen Osten ruhen die Waffen nicht. Der Redner der SPD setzte sich mit dem Argument auseinander, ob das militärische Engagement im Nahen Osten die Terroranschlagsgefahr in Deutschland erhöhe. Er warf mir vor, ich hätte dies hier behauptet. Auch dies ist kennzeichnend für Ihre Vorgehensweise. Ich sagte in meinem Beitrag in der Haushaltsdebatte: Wenn der Innenminister Bayerns feststellt, dass unsere Beteiligung am Libanonkrieg die Terroranschlagsgefahr in Deutschland erhöht, dann ist es nicht zulässig, dass Sie einen solch gravierenden Vorwurf einfach übergehen...

Ich sagte weiterhin: Sie werden nicht überrascht sein, dass in den letzten Jahren auch aus den Sicherheitsdiensten immer wieder angemahnt worden ist, dass unser militärisches Engagement am Hindukusch und sonst wo nicht dazu geeignet ist, die Terroranschlagsgefahr in Deutschland zu mindern, sondern dass es vielmehr so ist, dass durch dieses militärische Engagement die Gefahr, dass terroristische Anschläge auch hier in Deutschland unternommen werden, immer weiter steigt.

Es ist kennzeichnend für Ihre Debatte, dass Sie nicht in der Lage sind, sich mit Argumenten aus den eigenen Reihen auseinander zu setzen, und dass Sie meinen, Sie könnten ohne weiteres die Argumente der dafür zuständigen Dienste der Bundesrepublik Deutschland übergehen. Man kann zu dem Ergebnis kommen, dass man, obwohl eine solche Analyse richtig ist, militärisch so entscheiden muss. Es ist aber gegenüber unserer Bevölkerung unredlich, dieses gravierende Argument einfach zu übergehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb wiederhole ich, dass ich mich hier nicht nur auf Herrn Beckstein oder auf die Sicherheitsdienste in Deutschland stützen möchte, sondern dass es auch meine Auffassung ist - dies sage ich jetzt in dieser Debatte -, dass dieses Engagement die Anschlagsgefahr in Deutschland erhöht.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Bundeskanzlerin und andere haben darauf hingewiesen, dass wir in dieser Frage nicht neutral seien. Es hörte sich so an, als sei dies gerade eine Begründung für unsere Entscheidung. Ich habe mit dieser Aussage erhebliche Probleme; denn sie ist dazu geeignet, dass wir falsche Entscheidungen treffen. Ich bin vielmehr der Auffassung, dass wir neutral sein müssen, und zwar wenn es um die Wertegebundenheit geht, die Sie hier angesprochen haben. Um die Tragweite dessen deutlich zu machen, will ich hier den Führer der christlichen Opposition im Libanon, General Aoun, zitieren - ich zitiere nicht wörtlich; das war in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ nachzulesen -, der sagte: Wir verstehen nicht, dass die Vereinten Nationen die Entführung von zwei israelischen Soldaten als terroristischen Akt verurteilen, während sie das Bombardieren unseres ganzen Landes, wobei über 1 000 Zivilisten umgekommen sind, nicht als terroristischen Akt verurteilen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Kritik des Führers der christlichen Opposition an der Entscheidung der Vereinten Nationen ist für jeden, der in der Wertegebundenheit zum Beispiel zu dem Ergebnis kommt, dass jedes menschliche Leben einen Wert an sich darstellt und dass man die Kampfhandlungen der einen Seite nicht mit den Kampfhandlungen der anderen Seite rechtfertigen kann, völlig gerechtfertigt. Ich bin der Meinung, dass dieser Hinweis des Führers der christlichen Opposition aufgegriffen werden muss.
Ich möchte das noch deutlicher machen, indem ich Alfred Grosser, einen französisch-deutschen Intellektuellen, zitiere, der kürzlich sagte: Wir werden auf die Art und Weise, wie wir bisher Politik betreiben, im Nahen Osten nicht weiterkommen, weil diese Politik zu einer Demütigung der arabischen Welt führt.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist nach wie vor der Fall. Sie sind stolz darauf, dass Sie nicht neutral sind. Sie wollen dazu beitragen, dass keine Waffen an die Hisbollah geliefert werden, während Sie gleichzeitig Waffen an Israel liefern. Das mag aus Ihrer Sicht begründet sein, aber Sie müssen nach dem klassischen Grundsatz „Audiatur semper et altera pars“ - man bedenke auch immer die Argumentation der anderen Seite - verfahren. Dann kommen Sie zu dem Ergebnis, dass aus Sicht der arabischen Welt eine solche Vorgehensweise nicht akzeptabel ist und als Demütigung empfunden wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich bitte Sie, über den Rat von Alfred Grosser nachzudenken.

Wir lehnen diesen Einsatz auch deshalb ab, weil Sie sich nach wie vor konstant weigern, zu sagen, was Sie unter Terrorismus verstehen. Der Kollege Struck - ich sehe ihn im Moment nicht - erregte sich in der Haushaltsdebatte darüber, dass ich ihn aufgefordert habe - übrigens auch die Kanzlerin -, endlich zu sagen, was man unter Terrorismus verstehe. Er verwandte in diesem Zusammenhang das Wort „beschämend“; der Außenminister sprach von „unerträglich“. Ich will jetzt nicht sagen, ob es in meinen Augen beschämend oder unerträglich ist, dass die Regierung und die Mehrheit des Parlaments nicht in der Lage sind, zu sagen, was sie unter Terrorismus verstehen. Nur so viel: Solange man das nicht kann, ist man nicht in der Lage, irgendwie rational gegen den Terrorismus auf dieser Welt vorzugehen. Das ist völlig ausgeschlossen.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Kollege Weisskirchen hat an das Völkerrecht erinnert. Natürlich müssen wir das Völkerrecht beachten. Dafür hatte ich plädiert. Das Völkerrecht kann man auf der Welt aber nur durchsetzen, wenn man es selbst beachtet. Deshalb möchte ich hier den Satz „Im Nahen Osten ruhen die Waffen“ aufgreifen und daran erinnern, dass wir nach wie vor am Irakkrieg beteiligt sind, der nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts völkerrechtswidrig ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Es hat keinen Sinn, das - wie andere Feststellungen auch - einfach auszuklammern und zu übergehen, weil es einem nicht passt. Dieser Krieg ist völkerrechtswidrig und wir sind an ihm durch die Gewährung der Nutzung von Flugplätzen sowie die Gewährung von Überflugrechten und sonstigen Hilfen an eine der Krieg führenden Parteien beteiligt. Das Bundesverwaltungsgericht hat Recht. Die Mehrheit dieses Hauses ist völlig im Unrecht, wenn sie ein solches gravierendes Argument übergeht.

(Beifall bei der LINKEN)

Letzter Punkt zu dem Satz, im Nahen Osten schweigen die Waffen.

(Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Libanon schweigen die Waffen!)

Es gibt einen untrennbaren Zusammenhang zwischen den Auseinandersetzungen im Libanon und den Bedrohungen, denen der Iran sich durch die ständige Diskussion in den Vereinigten Staaten ausgesetzt sieht.

(Zuruf von der SPD: Zynisch!)

- Sie nehmen das wohl gar nicht mehr wahr. - Der Iran sieht sich einer Bedrohung ausgesetzt, weil im Pentagon Pläne gehandelt werden - sie werden in Amerika veröffentlicht -, den Iran mit Nuklearwaffen anzugreifen. Dazu haben mehr als 100 Physiker, darunter fünf Nobelpreisträger, in einem offenen Brief Stellung genommen. Sie haben geschrieben, das sei äußerst unverantwortlich. Sie warnen vor den verhängnisvollen Konsequenzen für die Sicherheit der Vereinigten Staaten und der gesamten Welt, wenn solche Pläne erörtert werden.

Man kann doch das alles nicht einfach übergehen. Deshalb sagte ich eben, Frau Bundeskanzlerin: Ihr Satz „Im Nahen Osten ruhen die Waffen“ ist typisch für die Art und Weise, in der diese Entscheidung vorbereitet worden ist. Die Tatsache, dass Sie sich weigern, die Begriffe zu klären, wird eines Tages dazu führen, dass wir solche Entscheidungen bereuen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Lafontaine, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ich komme zum Schluss.

In einer der ersten Führungsvorschriften des damals noch jungen Heeres Bundeswehr stand als Geleit zum Kapitel „Führung“ das Dichterwort: „Nur wer klare Begriffe hat, kann befehlen.“ Über dieses Wort sollten Sie einmal nachdenken.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)