Zum Hauptinhalt springen

Der Wissenschaftsbetrieb wird regelrecht prekarisiert

Rede von Nicole Gohlke,

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Arbeit im Dienst der Wissenschaft, akademische Forschung und Lehre als Beruf – für viele klingt das so attraktiv, dass sie dafür zahlreiche Entbehrungen auf sich nehmen. Das zeigt der Bundesbericht zum wissenschaftlichen Nachwuchs. Wer sich für den Verbleib in der Wissenschaft entscheidet, tut dies vor allem aus Leidenschaft.

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ja!)

Karriereperspektive oder Arbeitsplatzsicherheit spielen für den sogenannten wissenschaftlichen Nachwuchs nur eine untergeordnete Rolle. Glücklicherweise ist das so – das muss man fast schon sagen –; denn im Wissenschaftsbetrieb sind beide Begriffe bislang regelrecht Fremdworte, und das muss sich endlich ändern.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Umfang des wissenschaftlichen Personals an Hochschulen unterhalb der Professur ist in der Zeit von 2000 bis 2014 um 76 Prozent auf 145 000 Beschäftigte angewachsen – eine gute Entwicklung, so könnte man meinen, vor allem natürlich angesichts der rasant gestiegenen Studierendenzahlen. Aber im selben Zeitraum stagnierte die Zahl der unbefristet Beschäftigten. An den Universitäten ist deren Zahl sogar leicht gesunken. Das ist der große Skandal: Sage und schreibe 93 Prozent des sogenannten wissenschaftlichen Nachwuchses an Hochschulen, also fast alle wissenschaftlich Beschäftigten unter 45 Jahren,

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das können die Länder doch ändern!)

verfügten im Jahr 2014 nur über eine befristete Anstellung. Das ist eine ungeheuerliche Zahl.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Fakt ist: Die Wissenschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte und insbesondere die Umstellung der Finanzierung auf Drittmittel haben den Wissenschaftsbetrieb regelrecht prekarisiert. Die Beschäftigten müssen jetzt die Folgen dieser Politik ausbaden. Es ist mittlerweile fast die Regel, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf mehreren Teilzeitstellen gleichzeitig arbeiten, dort jeweils mehr Stunden investieren, als sie eigentlich bezahlt bekommen, und dann auch noch schlecht bezahlte Lehraufträge annehmen, um den Betrieb an den Hochschulen überhaupt aufrechtzuerhalten. Kein Wunder also, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Universitäten im Schnitt doppelt so häufig kinderlos bleiben – trotz Kinderwunsches – wie der Durchschnitt aller Hochschulabsolventinnen und Hochschulabsolventen! Ich denke, die herrschende Wissenschaftspolitik ist familienfeindlich. Das ist ein zentraler Befund dieses Berichts. Nehmen Sie die Auswirkungen Ihrer Politik einmal zur Kenntnis!

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn die Bundesregierung behauptet, dass sie an diesem Problem arbeiten würde, dann mag das stimmen, an einer Lösung arbeitet sie aber wohl eher nicht; denn ihre Maßnahmen sind halbherzig, und die Wirkung ist fraglich. Ziel der Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes war angeblich, den Befristungswahnsinn einzudämmen und den befristeten Arbeitsvertrag auf die Zeit der Qualifizierung, also zum Beispiel auf eine Promotion, zu beschränken.

(Dr. Simone Raatz [SPD]: Genau, das ist doch das Ziel!)

– Ja, es ist gut, dass das noch das Ziel ist, aber an dem Ziel muss man noch arbeiten.

Auf die Kleine Anfrage der Linken vor einigen Wochen antwortete die Regierung – ich zitiere –:

"Der Begriff der Qualifizierung ist der Auslegung zugänglich. So kann im Einzelfall auch im Rahmen einer kurzen Befristungsdauer ein angemessenes Qualifizierungsziel verfolgt werden."

Im Klartext: Sie weigern sich, zu definieren, was unter Qualifizierung zu verstehen ist.

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das entscheiden die Hochschulen selbst! Das machen die Hochschulen!)

Jetzt kann alles Mögliche dazu gemacht werden. Das nehmen Sie ganz bewusst in Kauf.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)

Zulasten der Beschäftigten geht auch die folgende Aussage der Bundesregierung aus der gleichen Kleinen Anfrage – ich zitiere –:

"Es können jedoch auch sinnvolle Teilabschnitte gebildet werden, ..."

Damit öffnet die Bundesregierung kleinteiligen Stückelverträgen Tür und Tor. Ist das das, was SPD und Union unter Bekämpfung des Befristungsunwesens verstehen? Das kann ja wohl nicht wahr sein.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zum Programm für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Der Umfang des Programms reicht nicht aus, um Relevanzkarriereperspektiven zu schaffen und vor allem, um endlich einmal die Betreuung der Studierenden zu verbessern. Ganz ehrlich, die Perspektive dieser 1 000 Tenure-Track-Stellen ist auch nicht mehr so sicher; denn die Fortsetzung des Hochschulpaktes steht in den Sternen, weil die Union das blockiert. Die Hochschulen haben überhaupt keine Planungssicherheit. Es stellt sich die Frage, ob die Tenure-Tracks sicher in eine Professur münden oder ob die Stellen einer Überarbeitung des Personalplans zum Opfer fallen oder ob im Gegenzug andere Professuren gestrichen werden. Das muss unbedingt verhindert werden.

Kolleginnen und Kollegen, dass es angesichts dieser Zustände noch nicht zum regelrechten Aufstand an den Hochschulen gekommen ist, liegt vor allem am hohen Enthusiasmus der Betroffenen.

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Über welches Land reden Sie eigentlich?)

Aber ich denke, auch dieser Enthusiasmus hat irgendwo seine Grenzen. Auf den Demonstrationen des March for Science in Deutschland haben die meisten Redebeiträge die unsicheren und ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft thematisiert und angeprangert. Recht haben sie. Echte Wissenschaftsfreiheit, echte Wissenschaftsautonomie gibt es

(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Gibt es in China, gibt es in Nordkorea!)

nur mit guter Arbeit und ökonomischer Unabhängigkeit. Die Bedingungen dafür herzustellen, ist die Aufgabe von Politik. Die Linke steht dafür bereit.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])