Zum Hauptinhalt springen

Bundesrepublik entfernt sich von sozialer Gerechtigkeit

Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Debatte über den Etat von Bundeskanzlerin und Bundeskanzleramt 2008

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Zuerst durften wir hier Herrn Brüderle hören. Nur mit zwei Sätzen von ihm will ich mich auseinandersetzen. Sie haben zum einen der Union unterstellt, auch demokratisch-sozialistisch zu sein. Ich glaube, es hilft nichts: Ich muss Ihnen irgendwann einmal erklären, was demokratischer Sozialismus ist.

(Beifall bei der LINKEN Lachen bei der FDP Volker Kauder (CDU/CSU): Aber nicht heute!)

- Nicht heute, Herr Kauder; Sie können ganz beruhigt sein.

Zum anderen haben Sie gesagt, es gebe glücklicherweise eine Partei in diesem Hause, die ihren wirtschaftlichen Sachverstand nicht an der Garderobe abgegeben hat. Das stimmt: Das ist die Linke. Diesem Satz wollte ich ausdrücklich zustimmen.

(Beifall bei der LINKEN Lachen bei der CDU/CSU und der FDP Volker Kauder (CDU/CSU): Wir sind aber nicht im Deutschen Theater!)

- Ich wusste, dass Sie sich freuen. Ich wollte Ihnen am Anfang eine kleine Freude machen. Aber jetzt wird es anders.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Gysi, jetzt haben Sie zwei Ankündigungen gemacht, die Sie im Rahmen Ihrer Redezeit nicht werden abarbeiten können. Darauf mache ich vorsichtshalber aufmerksam.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Aber ich bitte darum, dass Sie Ihre Zwischenbemerkung nicht auf meine Redezeit anrechnen.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)

Frau Bundeskanzlerin, kommen wir einmal zur Außenpolitik. Sie stören sich zum Teil daran, wie China versucht, Weltmacht zu werden, und Russland versucht, wieder Weltmacht zu werden. Sie vergessen nur, darauf hinzuweisen, dass der Westen, und zwar in Form der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands und anderer Länder, seinen Anteil daran hat. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Debatten, die wir im Bundestag geführt haben, als man meinte, Bomben auf Belgrad werfen zu müssen, um Menschenrechte herzustellen.

(Widerspruch bei der SPD)

- Ich weiß, Sie wollen davon nichts hören.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Scharping sagte, er werde sich davon nicht durch ein Veto Chinas abhalten lassen. Verstehen Sie, was das Problem ist? Jelzin wollte das nicht. Der Premierminister musste mit seinem Flugzeug umkehren, weil ihn keiner zum Gespräch empfing. Was war denn die Schlussfolgerung der beiden Führungen? Die Schlussfolgerung war eben nicht: Wir ziehen uns bescheiden zurück. Die Schlussfolgerung war vielmehr: Unser Nein oder unser Ja hat nur dann eine Relevanz, wenn dahinter auch Macht steht, nämlich Weltmacht. Mit dieser Politik haben wir es jetzt zu tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Daran hat doch Deutschland seinen Anteil; das können wir doch nicht leugnen.

Nehmen wir die Kriegspolitik; Sie haben dazu kaum etwas gesagt. Ich sage es noch einmal: Sie werden Terrorismus nicht wirksam mit Krieg bekämpfen können. Krieg erzeugt immer neuen Hass und damit neue Bereitschaft zum Terrorismus.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn man sich im Übrigen den Irak, Afghanistan und vor allen Dingen die Drohung der USA in Bezug auf den Iran ansieht, dann weiß man: Es geht immer auch um Ressourcen. Es geht um Erdöl und Erdgas. Als ob wir seit Jahrhunderten nichts dazugelernt hätten! Immer wieder Kriege aus wirtschaftlichen Gründen!

(Beifall bei der LINKEN)

Eine weitere Sache. Ich bin wirklich sehr für Frauenrechte und froh darüber, dass sich in Afghanistan etwas verbessert. Aber ich nehme Ihnen Ihre Ehrlichkeit diesbezüglich nicht ab vor dem Hintergrund, dass der König von Saudi-Arabien hier ist und Sie zu den Frauenrechten kein einziges öffentliches Wort sagen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Dann geht es mir darum, dass die Schweiz jetzt gesagt hat, sie ziehe ihre Soldaten aus Afghanistan ab. Es gibt drei Felder das muss ich Ihnen einmal sagen , auf denen wir von der Schweiz lernen können. Erstens müssen dort alle mit einem Erwerbseinkommen Beiträge dies bezogen auf ihr vollständiges Einkommen in die Rentenversicherung einzahlen. Zweitens kennt man in der Schweiz Volksentscheide, und drittens zieht sie ihre Soldaten ab, weil sie sagt: ISAF dient nicht mehr der Friedenssicherung. In dieser Hinsicht könnte Deutschland etwas schweizerischer werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Dann zu den Menschenrechten. Frau Bundeskanzlerin, da hatte ich bei Ihnen wirklich auf eine Änderung gehofft. Man kann ja unterschiedliche Wege gehen. Schröder, Schmidt und andere haben immer gesagt: Wir mischen uns nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ein, vielleicht in internen Gesprächen, aber nicht öffentlich. Das ist der eine Weg.

Sie haben in Russland etwas anderes gemacht. Sie haben mit China etwas anderes gemacht. Ein anderer Weg ist, dass man sagt: Ich spreche das öffentlich an, auch wenn Putin dabei ist. - Das kann man machen, Frau Bundeskanzlerin. Aber nun hatte ich gehofft, dass Sie nicht einseitig sind, und habe darauf gewartet, was Sie auf der Ranch von Bush sagen. Da haben Sie öffentlich nichts gesagt, kein Wort zu Guantánamo.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ich bitte Sie, Frau Bundeskanzlerin: Guantánamo ist eine schwere Menschenrechtsverletzung. Da sitzen Menschen seit Jahren. Sie wissen nicht, wie lange noch. Sie haben keine Verteidiger. Es gibt für sie kein Recht. Sie sind rechtlos. Das ist überhaupt nicht hinnehmbar. Sie werden weder als Kriegsgefangene noch als Beschuldigte behandelt.

Der Höhepunkt waren - das muss ich Ihnen sagen - Geheimgefängnisse der CIA in Osteuropa. Sie müssen sich das einmal vorstellen: Da sitzen Menschen, die gar nicht wissen, wo sie sind. Sie können keine Briefe an Angehörige schicken. Es gibt keinen Verteidiger, keinen zuständigen Richter und keinen zuständigen Staatsanwalt. Sie wissen nicht, ob sie dort ihr Leben lang oder nur kurze Zeit einsitzen. Sie wissen gar nichts. Hätte ein untergegangener Staat so etwas gehabt, wir hätten ganze Kommissionen und Komitees gebildet, um das auszuwerten, und Sie sagen dazu auf der Ranch nicht ein Wörtchen. Das ist nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Das ist die Einseitigkeit, wie ich sie seit Jahrzehnten kenne. Beim Gegenüber stellt man immer Menschenrechtsverletzungen fest, und bei Freunden schweigt man dazu. Das ist keine Lösung des Problems. Das ist ein instrumentelles Verhältnis zu Menschenrechten.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber kommen wir zur Innenpolitik. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben den schönen Satz gesagt: „Der Aufschwung kommt bei den Menschen an, bei immer mehr Menschen.“ Offenbar haben Sie nur Kontakt zu 10 Prozent der Menschen

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos) - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist ja Blödsinn!)

und zu 90 Prozent der Menschen nicht. Was glauben Sie, was die Rentnerinnen und Rentner denken, wenn sie hören, dass der Aufschwung bei ihnen ankommt? Wir hatten gerade eine Rentensteigerung von 0,5 Prozent und eine Inflation von 3 Prozent. Das macht ein Minus von 2,5 Prozent. Da sind die Rentnerinnen und Rentner aber begeistert von dem Aufschwung!

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Sie haben auch einen Satz aufgegriffen, den ich schon von Herrn Kauder kannte. Er hat in der Sendung Hart, aber fair gesagt: Sozial ist alles, was Arbeit schafft, und unsozial ist alles, was Arbeit vernichtet. Sie machen sich das viel zu einfach. Es gibt auch Arbeit in Unwürde.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Die ist nicht sozial. Wir brauchen gute Arbeit, wir brauchen Arbeit in Würde. Das ist ein großer Unterschied.

Ich will Ihnen einmal sagen, bei wem alles der Aufschwung nicht ankommt. Fangen wir einmal mit der Vermögensverteilung in Deutschland an, bei der die Ungleichheit übrigens unter Ihrer Verantwortung, Frau Bundeskanzlerin, noch zugenommen hat. 10 Prozent der Bevölkerung in Deutschland besitzen zwei Drittel des Vermögens, und zwei Drittel der Bevölkerung besitzen kein Vermögen. Das waren einmal weniger. Der Reichtum hat zugenommen, und die Armut hat zugenommen. Wir sind von sozialer Gerechtigkeit weiter entfernt als zu Beginn Ihrer Koalition. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

2,6 Millionen Kinder leben in Armut. Sie haben keinen Satz dazu gesagt, was Sie dagegen tun wollen. 7,4 Millionen Menschen in Deutschland leben entweder ausschließlich oder zusätzlich von ALG II. Die merken nichts von dem Aufschwung, gar nichts. Darunter sind 1,3 Millionen Aufstocker. Deren Zahl hat zugenommen. Das muss man sich einmal überlegen Herr Kauder, Sie sagen, das sei sozial : Aufstocker sind Leute, die einen Vollzeitjob haben, aber von dem Lohn nicht leben können.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Aufstocker arbeiten nicht Vollzeit! Das wissen Sie, Herr Gysi!)

Deshalb müssen sie zusätzlich Sozialleistungen beantragen.

Das ist überhaupt der Gipfel. Sie sagen immer: weniger Staat, mehr Markt. Aber die Risiken der Marktwirtschaft soll der Staat tragen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler müssen Steuern bezahlen, damit wir die Löhne wieder aufstocken. Das wollen Sie auch noch vertiefen; Sie wollen ja den Kombilohn erst richtig einführen. Ich kann nur sagen: Das ist unserer Meinung nach ein völlig falscher Weg.
Den gesetzlichen Mindestlohn lehnen Sie ab. Der würde das beseitigen. Dann wäre klar, was mindestens gezahlt werden muss. Dann gäbe es keine Aufstocker mehr, und die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler müssten nicht zusätzlich Mittel zur Verfügung stellen. Aber das machen Sie nicht, obwohl der Mindestlohn so wichtig wäre. Sie führen ihn nicht einmal bei den Briefzustellerinnen und Briefzustellern ein. Wir haben dafür noch eine Woche im Dezember Zeit; ich bin sehr gespannt, ob Sie in dieser Zeit eine Lösung finden.
Sie haben nichts gegen den Verdacht unternommen, Frau Bundeskanzlerin, dass die beiden Konkurrenzkonzerne, die gerne viel Geld verdienen und an denen Springer beteiligt ist, bei Ihnen vorstellig wurden und gesagt haben, sie wollten den Mindestlohn nicht. Nun muss ich Springer einmal verteidigen. Ich verstehe ja, dass sie mit Billiglöhnen eine hohe Rendite erzielen wollen. Ich verstehe sogar, dass sie Sie anrufen und sagen, dass sie das gerne weiterhin verdienen wollen. Das Einzige, was ich nicht verstehe, ist, dass Sie nicht den Mut und die Kraft haben, zu sagen: Das ist ganz nett, aber wir machen das nicht; wir werden den gesetzlichen Mindestlohn für die Briefzustellerinnen und Briefzusteller einführen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Das ist das Problem, mit dem wir es zu tun haben.
Zum Kombilohn sagt selbst der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, dass er lieber einen gesetzlichen Mindestlohn hätte als die Lohndrückerei über Kombilöhne. Jeder kann sich vorstellen, was in unserer Wirtschaft passiert, wenn Sie per Gesetz regeln, dass Sie den Rest sowieso immer draufzahlen. Dafür haben wir ja die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.

Auch die 6,6 Millionen Menschen in Minijobs merken übrigens nichts von Ihrem Aufschwung. Deren Zahl hat ebenfalls zugenommen. Außerdem sind inzwischen 800 000 Menschen in Leiharbeit. Ich sage Ihnen noch einmal: Das ist eine moderne Form der Sklaverei.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Es geht nicht an, dass man zwischen einem Drittel und der Hälfte von dem verdient, was andere für dieselbe Arbeit verdienen. Ebenso geht es nicht an, dass die Stammbelegschaften schrittweise ausgewechselt werden, weil sie über die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter unter Druck gesetzt werden.

(Zuruf von der CDU/CSU)

Wir können ja gerne zu mehr sozialer Gerechtigkeit kommen: Für die ALG-II-Empfänger haben wir einen Weihnachtszuschlag beantragt. Aber die christliche Partei sagt natürlich Nein zum Weihnachtszuschlag. Am 24. Dezember werden sie aber schwülstige Reden halten. Sie hätten Ja sagen müssen zum Weihnachtszuschlag für ALG-II-Empfänger.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Die Regelsatzerhöhung haben Sie abgelehnt. Die Inflationsrate beträgt 3 Prozent, Sie erhöhen aber trotzdem nicht den ALG-II-Regelsatz. Die Kindergelderhöhung haben Sie verschoben. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben hier die Entscheidung für das Elterngeld und Frau von der Leyen gewürdigt. Ich muss Ihnen einmal sagen, was da Übles passiert ist: Die Ärmeren bekamen zwei Jahre lang 300 Euro Erziehungsgeld pro Monat. Die Bezugsdauer haben Sie jetzt halbiert. Sie haben dafür gesorgt, dass sie nur ein Jahr lang Elterngeld erhalten. Dafür erhalten die Besserverdienenden bis zu 1 800 Euro Elterngeld pro Monat. Ich sage Ihnen: Das ist die direkteste Umverteilung von Arm zu Reich, die hier je beschlossen worden ist.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Über die Hälfte derjenigen, die Elterngeld beziehen, erhalten nur 300 Euro. Die Bezugsdauer ist aber um zwölf Monate verkürzt worden. Das hat mit sozialer Gerechtigkeit wirklich überhaupt nichts zu tun.
Zu den Rentnerinnen und Rentnern ich habe sie ja schon angesprochen : Sie haben die Formel verändert. Es gibt keine Beteiligung der Rentnerinnen und Rentner an der Produktivitätsentwicklung mehr. Auch an der Lohnentwicklung sind sie kaum noch beteiligt. Wir haben Nullrunde für Nullrunde gehabt. Real sind das immer Minusrunden, weil es immer Beitrags- und Preissteigerungen gab. Auch in diesem Jahr hatten wir letztlich eine Minusrunde, nichts anderes das ist doch ganz klar , weil die Preise viel stärker steigen als die Renten. Es geht den Rentnerinnen und Rentnern in Deutschland das sind Millionen Menschen wieder schlechter. Das ist die Wahrheit. Und es wird ihnen auch im nächsten Jahr nicht besser gehen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Dann haben Sie noch beschlossen, das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre zu erhöhen. Frau Bundeskanzlerin, das ist doch nichts anderes als eine Rentenkürzung. Sie wollen einfach zwei Jahre lang keine Rente zahlen. Das ist alles, was dahintersteckt.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Die SPD hat da mitgemacht.

Kommen wir nun zur Zwangsverrentung. Frau Bundeskanzlerin, ich appelliere noch einmal an Sie: Wir haben in diesem Jahr noch eine Sitzungswoche. Wir können da noch etwas machen. Ich will das so seicht wie möglich machen.

(Joachim Poß (SPD): „Seicht“ war schon sehr richtig! Von Ihnen kommt sehr viel Seichtes!)

Diese Zwangsverrentung ist wirklich nicht hinnehmbar. Jährlich sollen 120 000 bis 150 000 Menschen zwangsverrentet werden. Diesen Menschen nimmt man die Entscheidungsfreiheit. Einem älteren Menschen von beispielsweise 60 Jahren, der ALG II erhält, sagen Sie: Du darfst nicht länger ALG II beziehen. Du musst in Frührente gehen, und zwar mit Abzügen, die dein Leben lang gelten. - Ich halte das für grundgesetzwidrig.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ich habe die Auswirkungen an einem Beispiel ausgerechnet: Nehmen wir einen Durchschnittsverdiener, der 40 Berufsjahre hinter sich hat. Er hätte Anspruch auf eine Rente von 1 051 Euro. Wenn Sie ihn, weil er arbeitslos ist, jetzt zu einer Frühverrentung zwingen und der höchste denkbare Abzug von 18 Prozent greift das entspricht einem Abzug von 190 Euro , bekommt er statt 1 051 Euro nur 861 Euro Rente, und zwar auch, wenn er 88 oder 89 Jahre alt ist. Wenn Sie mit einer Rente in dieser Größenordnung leben müssten, wüssten Sie, dass das ein Verlust ist, der einfach nicht hinnehmbar ist. Den Menschen jede Entscheidungsfreiheit zu nehmen, halte ich wirklich für indiskutabel.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ich appelliere noch einmal an Sie: Es gibt noch eine Sitzungswoche in diesem Jahr. Lassen Sie uns hier eine Lösung finden. Wir sind diesbezüglich für eine namentliche Abstimmung. Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten können bei diesem Thema nicht mit der Koalitionsdisziplin kommen. Sie müssen dann jährlich 120 000 bis 150 000 Leuten erklären, warum Sie mit dafür gesorgt haben, dass sie zwangsverrentet werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Noch eine Anmerkung, die das Thema Rente betrifft: Schröder hat ja noch die Riester-Rente eingeführt. Mit der Riester-Rente hat man der Wirtschaft im Grunde gesagt: Ihr braucht nicht mehr mitzubezahlen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen das alles alleine bezahlen.

(Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): So einen Schwachsinn habe ich lange nicht gehört!)

Moment. - Das ist doch ein großes Geschäft für die privaten Versicherungen. Die privaten Versicherungen haben sich doch als dankbar erwiesen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Die Allianz-Versicherung hat im Juli 2007 an die CSU 60 001 Euro gespendet, an die CDU 60 001 Euro gespendet, an die SPD 60 001 Euro gespendet und man höre und staune an die Grünen 60 001 Euro gespendet. Herr Westerwelle, was Sie falsch gemacht haben, weiß ich nicht.

(Heiterkeit bei der LINKEN)

Sie haben nur 50 001 Euro bekommen. Die Strafe von 10 000 Euro habe ich nicht verstanden. Meine Partei hat gar nichts bekommen.

(Zurufe: Oh!)

Ich muss Ihnen sagen: Ich bin froh, dass es noch eine nicht von der Allianz gesponserte Partei im Deutschen Bundestag gibt.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos) - Volker Kauder (CDU/CSU): Ihr habt das Vermögen von der alten SED übernommen!)

Nun kommen wir zu den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Der Aufschwung soll ja so stark sein. Nehmen wir einmal das Pro-Kopf-Einkommen. Ich habe wirklich gestaunt, als ich die neue OECD-Statistik gelesen habe. Es ist interessant, so etwas zu lesen. Nach dieser neuen OECD-Statistik ist es so, dass wir in Deutschland im Vergleich der 15 alten EU-Mitgliedsländer beim Pro-Kopf-Einkommen auf Platz 11 liegen. Die OECD sagt: Im nächsten Jahr überholt uns Spanien; dann liegen wir auf Platz 12. Darauf sind Sie stolz, Frau Bundeskanzlerin? Das ist wirklich kein Grund, stolz zu sein.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Die UNO hat gestern eine neue Statistik herausgebracht, in der sie feststellt: Wir sind hinsichtlich der Lebensqualität um einen Platz nach hinten gerutscht. Wir sind jetzt auf Platz 22. Im Durchschnitt ist die Lebensqualität in Italien, Spanien und den USA höher als in Deutschland. Das hat die UNO festgestellt, nicht die Linke. Verstehen Sie? Sie reden hier, als ob in Deutschland alles blühend sei. Davon kann doch gar keine Rede sein!

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos) - Zurufe von der FDP)

Wir hatten in den letzten zehn Jahren daran waren übrigens auch Sie beteiligt; seien Sie von der FDP einmal nicht so laut in Deutschland einen Reallohnverlust von 6 Prozent. In denselben Jahren gab es eine Reallohnsteigerung in Frankreich von 10 Prozent, in den USA von 23 Prozent, in Großbritannien von 24 Prozent und in Schweden von 29 Prozent. Daher resultiert doch unser Abstieg im internationalen Vergleich.

Bei uns boomt nur die Exportwirtschaft, nicht die Binnenwirtschaft. Denn die Kaufkraft ist nicht gestiegen. Was passiert jetzt? Jetzt erleben wir den Verfall des Dollars. Damit kommt die Exportwirtschaft wieder ins Schlingern. Sie haben binnenwirtschaftlich nichts vorbereitet, um dafür einen Ausgleich zu haben.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Jetzt sage ich Ihnen - da werden Sie sich wundern-: Nicht nur für die armen Schichten in Deutschland besteht eine große Gefahr, sondern auch für die Mittelschicht. Sie zerstören die Schicht der durchschnittlich Verdienenden, Sie zerstören die Mittelschicht. Ich nenne Ihnen dafür zwei Beispiele. Das eine Beispiel ist: Sie wissen, Sie haben den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer von 53 auf 42 Prozent gesenkt. Das kostet uns übrigens jährlich 11 Milliarden Euro. Das sage ich, damit die Leute einmal wissen, auf wie viel Geld Sie da verzichtet haben. Aber okay, das haben Sie gemacht. Sie haben die Steuer beim Einkommen allerdings nicht linear gestaltet, sondern es gibt einen sogenannten Steuerbauch. Das heißt, dass die durchschnittlich Verdienenden stärker in Anspruch genommen werden, weil Sie bei den Bestverdienenden nachgelassen haben. Damit zerstören Sie sozusagen die Schicht der Normalverdienenden, die Mittelschicht.
Ich komme zum zweiten Beispiel. Das betrifft die Beiträge zur Sozialversicherung, und zwar aus folgendem Grund: Sie alle haben eine Beitragsbemessungsgrenze beschlossen und gesagt: Für ein höheres Einkommen muss man nicht mehr einzahlen. Wenn Sie sagen, für ein höheres Einkommen müsse man nicht mehr einzahlen, dann müssen Sie beim Normalverdienst den Prozentsatz erhöhen, damit das Geld reicht. Wieder trifft es die durchschnittlich Verdienenden. Sie müssen auf ihr ganzes Einkommen Beiträge zahlen, während die Best- und Besserverdienenden nur auf einen Teil ihres Einkommens Beiträge zahlen müssen.

Ich kann Ihnen Punkt für Punkt belegen, wie Sie gerade die durchschnittlich Verdienenden in Deutschland immer stärker zur Kasse bitten. Auch das hat nicht nur die Linke festgestellt, sondern die OECD hat jetzt gesagt, dass die niedrigen und die durchschnittlichen Einkommen in Deutschland im internationalen Vergleich übermäßig stark belastet sind, während die hohen Einkommen im internationalen Vergleich stark entlastet sind. Das ist das Ergebnis der Politik von Union und SPD.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Was hat sich für die Ostdeutschen verbessert? Frau Bundeskanzlerin, auch Sie sind Ostdeutsche. Gibt es einen einzigen Schritt zur Angleichung der Renten, einen einzigen Schritt zur Angleichung der Löhne und Gehälter, einen einzigen Schritt zur Angleichung der Arbeitszeiten? Es gibt ihn nicht. Die Transferleistungen sind vereinbart; das ist okay. Aber davon müsste man - das will ich nicht machen; ich will es nur ansprechen - jetzt wieder abrechnen, dass Sie bei den übrigen Fördertöpfen den Osten immer benachteiligen,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Blödsinn!)

zum Beispiel bei Wissenschaft und Forschung und auf anderen Gebieten.

Es gibt noch eine Schwäche. Sie machen nichts für strukturschwache Regionen, ganz egal ob in Ost oder West. Die Kommunen strukturschwacher Regionen brauchen eine Investitionspauschale, damit sie eigene Wirtschaftskreisläufe in Gang setzen können.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Kommen wir einmal zu den Steuern, weil darüber immer diskutiert wird. Uns wird Populismus vorgeworfen. Dazu muss ich Ihnen etwas sagen. Die Körperschaftsteuer haben Sie allesamt von 45 Prozent auf inzwischen ab 1. Januar 2008 15 Prozent gesenkt. Aber Sie vergessen immer, zu erwähnen, dass die Körperschaftsteuer in Großbritannien 30 Prozent, in Frankreich 33,3 Prozent und in den USA 35 Prozent beträgt.

(Peer Steinbrück, Bundesminister: Die zahlen auch keine Gwerbesteuer! - Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Da gibt es auch keine Gewerbesteuer! Aber das weißt du nicht! Keine Ahnung!)

Ich habe schon gesagt: Den Spitzensteuersatz haben Sie von 53 auf 42 Prozent gesenkt.
Ich erwähne noch einmal, dass ein Unternehmen, das etwas verkauft, eigentlich Steuern auf Veräußerungserlöse zahlen muss. Der Bäckermeister muss heute das Doppelte zahlen, die Deutsche Bank aber gar nichts mehr. Diese Steuer haben Sie unter Schröder einfach gestrichen. Damals haben Sie von der Union gemeckert, wieder eingeführt haben Sie diese Steuer aber nicht.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Es gibt in Deutschland keine Vermögensteuer, wie es in anderen Ländern der Fall ist. Es gibt in Deutschland keine Börsenumsatzsteuer, wie es in anderen Ländern der Fall ist. Die deutsche Erbschaftsteuer ist lächerlich. Da ich Beispiele liebe, habe ich einmal Folgendes berechnen lassen: Auf ein Firmenvermögen von 4 Millionen Euro zahlt man in Deutschland eine Erbschaftsteuer von 168 000 Euro, in der Schweiz zahlt man 262 000 Euro, in Frankreich zahlt man 660 000 Euro, in den Niederlanden zahlt man 1,2 Millionen Euro, und gleich fallen Sie wahrscheinlich um in den USA muss man darauf eine Erbschaftsteuer von umgerechnet 1,6 Millionen Euro zahlen. Unsere Erbschaftsteuer ist lächerlich, aber Sie korrigieren daran so gut wie gar nichts!

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos) - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Aha! Sie fordern also amerikanische Verhältnisse! Das ist ja interessant!)

Eine Steuer haben Sie allerdings erhöht das muss man Ihnen lassen : die Mehrwertsteuer.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Diese neue Erkenntnis ist wirklich erstaunlich! Sie überraschen mich immer wieder!)

Die Mehrwertsteuererhöhung trifft wieder die durchschnittlich Verdienenden, sie trifft die Armen, sie trifft die Rentnerinnen und Rentner, die Arbeitslosen usw., während es die anderen nicht weiter stört.

Nun komme ich auf das Thema Populismus zu sprechen.

(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ihre ganze Rede war eine populistische Inszenierung!)

Für Sie ist soziale Gerechtigkeit populär, für mich auch. Sie sollten allerdings einmal versuchen, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Das ist das Problem, über das wir streiten.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich möchte etwas zur durchschnittlichen Steuer- und Abgabenquote in der EU sagen; ich beziehe mich also nicht nur auf die Höhe der Steuern. Damit das niemand vergisst: Diese durchschnittliche Quote, die auch die Steuer- und Abgabenquote der Slowakei, Polens, Lettlands, Litauens, Estlands, Bulgariens und Rumäniens berücksichtigt, liegt bei 40,8 Prozent. Das wirtschaftlich stärkste Land der EU, Deutschland, hat eine Steuer- und Abgabenquote von 36,3 Prozent. Es ist also nicht etwa so, dass Deutschland an der Spitze liegt, wie man es erwarten würde, sondern wir liegen sogar unter dem Durchschnitt. Würde Deutschland bei dem, was ich gerade genannt habe, im europäischen Durchschnitt liegen, dann hätten wir jährliche Mehreinnahmen von 120 Milliarden Euro.

(Zurufe von der SPD: Ui! Ui! - Toll! - Na, so etwas!)

Damit ließe sich all das bezahlen, was wir vorgeschlgen haben. Genau das lehnen Sie aber ab.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie ich gehört habe, hat die SPD einen Linksruck hinter sich,

(Dr. Peter Struck (SPD): So, so!)

weil sie eine geringe Verlängerung der Bezugsdauer des ALG I beschlossen hat. Ich erinnere daran, dass Union und FDP einmal eine 32-monatige Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I eingeführt haben, nicht bloß eine 24-monatige. Wenn die Verlängerung der Bezugsdauer des ALG I auf 24 Monate einen Linksruck bedeutet, dann müssen Union und FDP damals wohl linksextremistisch gewesen sein. Vor diesem Ruf will ich Sie aber in Schutz nehmen!

(Beifall bei der LINKEN - Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, ja! Und Sie waren einmal links-staatstragend! - Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist doch wirklich dummes Zeug, was Sie da reden!)

Sie haben den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung gesenkt, und zwar zunächst von 6,5 Prozent auf 4,2 Prozent und jetzt von 4,2 Prozent auf 3,3 Prozent; damit will ich mich heute allerdings nicht näher auseinandersetzen.

(Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Das ist auch schwierig für dich! - Weitere Zurufe von der SPD: Ach, nein? - Warum denn nicht? - Mach doch mal! Los! )

Da nach einem Aufschwung immer ein Abschwung folgt, möchte ich Sie nur fragen: Was machen Sie im Abschwung,

(Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): So ist es!)

also dann, wenn die Arbeitslosenzahlen wieder steigen? Ich kann mir schon jetzt vorstellen, dass es in den Debatten, die wir dann führen werden, wieder heißen wird: Wir können doch die Beitragssätze nicht erhöhen. Wir müssen also die Leistungen kürzen. Das, was Sie hier beschlossen haben, wird sich für die Arbeitslosen wieder nachteilig auswirken.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine Entwicklung ist mittlerweile allen deutlich geworden das ist übrigens eine vernünftige Entwicklung : Je stärker die Linke ist, desto sozialdemokratischer wird die SPD.

(Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Sehr richtig!)

Je stärker die Linke ist, desto sozialer und friedenspolitisch engagierter werden die Grünen. Nur bei der Union erleben wir die umgekehrte Entwicklung: Die CDU hat für ihren letzten Parteitag einen Leitantrag beschlossen, in dem gefordert wird:

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Gysi, denken Sie bitte an die Redezeit.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
kein Mindestlohn, keine Einschränkung der Zeitarbeit, keine Einheitsschule! Frau Bundeskanzlerin, wir beide haben eine Gemeinschaftsschule besucht. So schlecht sind wir doch gar nicht ausgebildet!

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Sie überschätzen sich mal wieder ein wenig, Herr Kollege!)

Damit haben Sie sich dagegen entschieden, bei der Bildung für mehr Chancengleichheit zu sorgen. Außerdem haben Sie sich gegen ein Aufweichen der Rente mit 67 gewandt. Mit anderen Worten: Sie wollen die Armut erhöhen und den Reichtum stärken. Genau das ist nicht unsere Linie. Deshalb bin ich froh, dass es in diesem Hause eine linke Opposition gibt.
Danke.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)