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Birgit Wöllert: Ausschreibungspraxis ist Wurzel allen Übels

Rede von Birgit Wöllert,

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Das Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung ist entstanden, obwohl es nicht im Koalitionsvertrag steht. Warum gibt es dieses Gesetz? Weil es dringend überfällig und notwendig war!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: Dann können Sie heute ja auch zustimmen!)

Die Praxis hat regelrecht danach geschrien, hier etwas zu verändern.

Durch die Ausschreibungspraxis sind Menschen mit Hilfsmitteln versorgt worden, die sie oftmals – ich denke an die Inkontinenzmittel; zu Deutsch: Windeln – gar nicht gebrauchen konnten; sie mussten dann selber passende Hilfsmittel kaufen. Es ist überfällig, dass damit jetzt wenigstens in Ansätzen Schluss gemacht wird.

(Tino Sorge [CDU/CSU]: War das ein Lob?)

– Das war das Lob.

(Beifall der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Tino Sorge [CDU/CSU]: Sehr gut, Frau Kollegin!)

Es gibt in diesem Gesetzentwurf ein paar Dinge, die durchaus in die richtige Richtung gehen.

(Tino Sorge [CDU/CSU]: Wieder ein Lob!)

Es ist schön, dass ich es mir ersparen kann, etwas zu den einzelnen Berufsgruppen der Heilmittelerbringer zu sagen, weil das der Kollege Kühne schon sehr schön gemacht hat.

(Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU])

Ich sage noch einmal, was alles als Heilmittel gilt: Anwendung von Physiotherapie, Krankengymnastik, Massage, Logopädie bei Stimm- und Sprechstörungen – das ist vor allem für Patienten wichtig, die einen Schlaganfall hatten, aber auch für Kinder und Jugendliche, damit sich Benachteiligungen nicht fortsetzen –, Ergotherapie für alles, was die Motorik, die Sinnesorgane und die geistigen und psychischen Fähigkeiten betrifft – das sind besonders wichtige Therapien für Menschen im Alter, aber auch für Kinder –, und, nicht zu vergessen, Podologie, mit der oftmals die Volkskrankheit Diabetes am Fuß behandelt wird und eine Amputation verzögert oder sogar verhindert werden kann. All das ist deshalb wichtig. Die entsprechenden Heilmittel werden eingesetzt, damit eine Krankheit abgemildert wird, eine Krankheit ausheilt oder der Krankheitsfortschritt aufgehalten wird. Deswegen ist das so wichtig.

Circa 330 000 Menschen arbeiten in diesen vier Heilmittelberufen, und zwar – da schließe ich mich den Vorrednern an – mit großer Kompetenz. Sie leisten eine hervorragende Arbeit. Das spiegelt sich überhaupt nicht in ihrem Verdienst wider. Das muss nun endlich geändert werden. Dafür ist es allerhöchste Zeit.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Erich Irlstorfer [CDU/CSU])

Das muss nicht nur deshalb geändert werden, weil die Menschen das verdienen, sondern auch, um den in Zukunft dringend notwendigen Nachwuchs zu sichern. So wird in diesen Berufen nämlich keiner mehr tätig sein wollen. Deshalb ist der Wegfall der Grundlohnsummenbindung, erst einmal befristet auf drei Jahre, ein kleiner Schritt. Er reicht aber lange nicht aus. Mutiger wäre es gewesen, diese Regelung ohne Befristung festzuschreiben oder in den Verhandlungen darauf zu drängen, die Ausgangsbasis zu erhöhen. Auch das kann ja der Gesetzgeber.

Die Kompetenzen müssen weiter ausgebaut werden. Es gab bereits Modellversuche, etwa den, eine Therapie nach der Diagnose mit einer ärztlichen Blankoverordnung durchzuführen. Dafür bräuchte es keine neuen Modellversuche. Neue Modellversuche brauchen wir dahin gehend, dass die Fachleute selber über die Therapie entscheiden können, ohne die Patienten vorher zum Arzt zu schicken. Das wäre ein moderner und innovativer Modellversuch.

Ich werde nicht weiter ausführen, was wir bei den Heilmitteln noch brauchen, da ich auf meine Redezeit achten muss. Ich komme jetzt zu den Hilfsmitteln. Da ist es überfällig, dafür zu sorgen, dass die Einzelfallgenehmigung der Krankenkassen wegfällt. Sie wird so restriktiv gehandhabt, dass die Grundbedürfnisse der Menschen oft gar nicht geachtet werden.

Lassen Sie mich die Antwort einer großen Krankenkasse auf den Widerspruch gegen die Ablehnung zur Übernahme der Kosten für eine Brems- und Schiebehilfe für einen Rollstuhl vorlesen, die zeigt, wie dringend notwendig Veränderungen sind: Das allgemeine Grundbedürfnis, selbstständig zu gehen, kann nicht darin verstanden werden, dass die Krankenkasse einen behinderten Menschen durch die Bereitstellung von Hilfsmitteln in die Lage versetzen muss, Wegstrecken jeder Art zurückzulegen, die ein nichtbehinderter Mensch bei normalem Gehen zu Fuß bewältigen kann. – Das ist doch hanebüchen. Das hat doch mit Teilhabe nichts zu tun. Diese Regelung gehört dringend abgeschafft.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ein Grundübel ist die unerträgliche Ausschreibungspraxis, die die Ursache aller Missstände ist. Diese muss abgeschafft werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Da meine Redezeit tatsächlich fortgeschritten ist, möchte ich ganz schnell eine Bemerkung zu der Beitragsbefreiung von Notärzten und Notärztinnen machen. Die Befreiung damit zu begründen, dass ihre Tätigkeit dem Allgemeinwohl diene, ist wirklich hanebüchen. Dann müssten wir ja ganz viele Bereiche aus dem beitragspflichtigen Versicherungssystem herausnehmen. Was machen wir denn mit den Feuerwehrleuten? Was machen wir denn mit den Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern? Auch sie sitzen in den Rettungswagen und dienen dem Allgemeinwohl. Das geht doch gar nicht. Das ist ein Armutszeugnis für Politik. Das Sozialversicherungssystem ist doch nicht dazu da, um einen Mangel innerhalb der Versorgung in irgendeiner Weise zu beheben.

Wir werden uns bei der Abstimmung zu diesem Gesetzentwurf enthalten; denn das Gesetz schafft, wie gesagt, eine Basis, auf der man weiterarbeiten kann. Es ist gut, dass Sie dieses Gesetz am Ende der Legislatur eingebracht haben. Vielleicht kann daraus in der nächsten Wahlperiode etwas Richtiges und Vernünftiges werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD – Maria Michalk [CDU/CSU]: Also, nein!)