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Armut in Europa

Rede von Heidrun Dittrich,

Selbst wer Arbeit hat, ist vor Armut nicht mehr sicher!

Rede zu Protokoll von Heidrun Dittrich (DIE LINKE.)
04.03.2010
Top 17, Drucksache 17/889

Europäisches Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung ernst nehmen.


Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren,


Armut in Europa

Das Sozialprodukt der Europäischen Union umfasst 12,4 Billionen Euro und ein Pro-Kopf-Einkommen von 23.600 Euro. Damit ist die EU der größte Wirtschaftsraum der Welt. Angesichts dieser Zahlen sollte Armut eigentlich der Vergangenheit angehören. Aber statt zu verschwinden, wächst die Armut in der EU stetig an - der Graben zwischen arm und reich wird immer tiefer. Nach offiziellen Angaben müssen 80 Millionen Europäer mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittslohnes ihres Heimatlandes auskommen. 17 Prozent der Europäerinnen und Europäer sind damit von Armut direkt betroffen. Jeder Zehnte EU Bürger hat nicht das Geld, um wenigstens jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine gute vegetarische Mahlzeit zu essen.
Auch in Deutschland ist seit dem Jahr 2000 die Zahl der Menschen, die in Armut leben müssen, von 8 auf 12 Millionen dramatisch angestiegen.

Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, werden sechzehnmal häufiger krank, ihre Lebenserwartung liegt vier Jahre unterhalb des Durchschnitts. Wer arm ist, findet schwieriger eine Arbeit oder eine Wohnung und hat weniger Zugang zu Bildungsmöglichkeiten.

Rund 30 Prozent der Armen in Deutschland sind Alleinerziehende, ca. 80 Prozent von ihnen sind alleinerziehende Mütter. Frauen sind von der Armut besonders bedroht, sie verdienen durchschnittlich 30 Prozent weniger und besitzen nur 82 Prozent des ausgabefähigen Einkommens gegenüber dem der Männer. Das Risiko in Armut zu geraten ist vor allem für ältere Frauen besonders hoch, da die Sozialschutzsysteme in der EU häufig auf dem Grundsatz einer ununterbrochenen bezahlten Erwerbstätigkeit beruhen. Welche Frauen häufig nicht haben.

Auch Kinder sind zunehmend von Armut betroffen. In den EU-Mitgliedsstaaten leben 20 Prozent der Minderjährigen unterhalb der Armutsgrenze. Während die wachsende Kinderarmut auf die schlechte Einkommenssituation der Haushalte zurückzuführen ist, zeigt die ebenfalls steigende Altersarmut, dass die europäischen Rentensicherungssysteme nicht mehr armutsfest sind. 19 Prozent der über 65-Jährigen sind von Armut akut gefährdet.

Selbst wer Arbeit hat, ist vor Armut nicht mehr sicher!
Ein Großteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben müssen, sind Beschäftigte im Niedriglohnbereich. Rund 25 Prozent aller abhängig Beschäftigten arbeiten in Deutschland mittlerweile im Niedriglohnsektor - Tendenz steigend.
Nirgendwo in Europa liegt die Quote höher. In Großbritannien beträgt der Anteil der Geringverdiener an allen Beschäftigten bei 21,7 Prozent, in den Niederlanden bei 17,6 Prozent, in Frankreich bei 11,1 Prozent und in Dänemark sogar nur bei 8,5 Prozent.
Besonders erschreckend: Die hohe Zahl derjenigen, die sich mit absoluten Billigjobs zu Stundenlöhnen von unter fünf Euro begnügen müssen. Das sind in Deutschland inzwischen fast zwei Millionen Arbeitnehmer, knapp ein Drittel der 6,5 Millionen Beschäftigten im Niedriglohnsektor. In den meisten anderen Ländern, so auch im liberalen Großbritannien, sind solche Löhne gesetzlich verboten. Selbst die USA haben wir im Bereich des Niedriglohnsektors überholt.

Wir können davon ausgehen, dass die Zahl der Armen als Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise weiter zunimmt.


Das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung ernst nehmen!
Die Europäische Kommission hat das Jahr 2010 zum „Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ ausgerufen.
In den vom Europäischen Parlament und des Rates beschlossenen Zielen des Europäischen Jahres gegen Armut wird eine Gesellschaft eingefordert, in der es keine Armut mehr gibt, in der eine gerechte Verteilung ermöglicht wird und in der niemand ausgegrenzt wird.

Eine Gesellschaft ohne Armut ist keineswegs unrealistisch und utopisch, denn die Armut existiert neben einem immer größer werdenden gesellschaftlichen Reichtum, der schon lange ein Ausmaß angenommen hat, dass er die Armut für immer verbannen könnte.

Ein wirkliches Handlungsprogramm der Bundesregierung gegen Armut und soziale Ausgrenzung ist jedoch nicht erkennbar. Ganz im Gegenteil: In jüngster Zeit überbieten sich die Regierungsparteien mit politischen Vorstößen, die das Sozialmodell der Republik grundlegend in Frage stellen.
Die Formulierung im Nationalen Strategiepapier des Bundesarbeits- und Sozialministerium zur Umsetzung des Jahres gegen Armut, dass „trotz der vielfältigen politischen Maßnahmen“ die Armut gewachsen sei, ist an Zynismus kaum noch zu überbieten. Realität ist doch, dass wegen und nicht „trotz“ der Umsetzung der neoliberalen Lissabon-Strategie und der Agenda 2010 die Armut rasant gestiegen ist. Die Lissabon-Strategie und deren Entsprechung in der Bundesrepublik, die Agenda 2010 haben mit der Schaffung und Förderung des Niedriglohnsektors und ungesicherten Arbeitsverhältnissen maßgeblich zum Anstieg von Armut beigetragen.
Hartnäckig hält sich daher der Eindruck auch bei zahlreichen sozialen Initiativen und Verbänden, dass das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung von der Bundesregierung dazu benutzt werden soll, die noch verbliebenen, tatsächlich unzureichenden sozialen Sicherungssysteme als ausreichend zu loben.
Pressemitteilungen des Ministeriums und auch das Nationale Strategiepapier bestärken die Vermutung noch, dass es sich bei dem Europäischen Jahr 2010 lediglich um eine werbewirksame PR-Aktion für die Politik der Bundesregierung handelt.
Zahllos sind die im Europäischen Jahr 2010 geplanten Projekte, die lediglich auf die Bewusstseinsmachung für Armutsrisiken abzielen. Zu diesem Zweck sollen laut Nationalen Strategiepapier beauftragte PR-Agenturen sicherstellen, „dass regelmäßig über gute Beispiele der Umsetzung sozialer Integration und Armutsprävention berichtet wird“.
Werbe- und PR-Agenturen dürften so die Hauptnutznießer des Europäischen Jahres 2010 sein, denn diese Arbeit will ja entlohnt sein.
Wir haben jedoch kein Erkenntnisdefizit, sondern ein politisches Handlungsdefizit. Angesichts der sozialen Probleme in unserem Land sollte die Bundesregierung nicht Werbeagenturen, sondern Taten sprechen lassen.
Der DGB hat nun die Zusammenarbeit mit dem Bundesarbeits- und Sozialministerium (BMAS) zum Europäisches Jahr 2010 aufgekündigt. Die stellvertretende DGB-Bundesvorsitzende Annelie Buntenbach kritisiert in scharfen Tönen das Verfahren bei der Auswahl der zu fördernden Projekte. Gesetzliche Aufgaben, wie Sprachförderung von Kindern, werden nicht finanziell abgesichert, sondern als befristete, finanziell ungesicherte Projekte gewährt.
Auch die Debatte im Anschluss an das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 9. Februar 2010 zur Verfassungswidrigkeit der Hartz IV Regelleistungen lässt an einem angemessenen Problembewusstsein der Bundesregierung ernsthaft zweifeln.
Mit den Äußerungen des Bundesaußenministers Westerwelle, dass sich Arbeit wieder lohnen solle, spielt er die Erwerbslosen und die Erwerbstätigen gegeneinander aus. Damit lenkt er von den eigentlichen Verantwortlichen für die soziale Schieflage ab. Der Hintergrund ist, dass Teile der aktuellen Bundesregierung offen darüber nachdenken, die Regelleistungen noch weiter zu kürzen.
Ich meine: Nicht die Hartz IV Regelsätze sind zu hoch, sondern die Löhne sind zu niedrig!
Der von Westerwelle bemühte Vergleich mit der „spätrömische Dekadenz“ ist nicht nur historisch vollkommen verfehlt, sondern verdeutlicht auf eine menschenverachtende Weise den Realitätsverlust des Vizekanzlers und Außenministers.
Ein monatlicher Regelsatz von 359 € für Erwachsene ist menschenunwürdig! Er ermöglicht weder eine Beteiligung am gesellschaftlichen und kulturellen Leben, noch eine ausgewogene und gesunde Ernährung. Wie soll zum Beispiel ein Erwerbsloser mit 11,27 Euro im Monat für den öffentlichen Nahverkehr tatsächlich mobil sein und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen? In Berlin oder Hannover kann man mit diesem Betrag ca. fünf Mal die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen.
Auch die Medien, angefangen bei der „Zeit“ bis zur „Bild“, reihen sich ein in die von Westerwelle initiierte Missbrauchsdebatte und mischen ordentlich mit bei der Konstruktion von Sozialneid und Sündenböcken. Gegen alle Fakten konnten wir in „Bild“ und auch der „Zeit“ lesen, dass Menschen mit Migrationshintergrund dem Steuerzahler auf der Tasche liegen und damit mitverantwortlich für die leeren öffentlichen Kassen seien.
Tatsächlich sind die Staatskassen leer, weil sich Unternehmen und Vermögende immer weiter aus der Finanzierung der öffentlichen Ausgaben zurückziehen konnten.
Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo bemüht sogar das alte rassistische Bild von der Einwanderung in die Sozialsysteme. Dabei war die Einwanderungsbilanz in der Bundesrepublik nie schlechter als heute. Inzwischen verlassen fast ebenso viele Menschen das Land, wie neue einwandern.
Solche hetzerischen Äußerungen kennen wir sonst nur von Rechtsextremen. Damit wird das gesellschaftliche Klima ins Unerträgliche verschlechtert.
Dieser Spaltung der Bevölkerung tritt DIE LINKE entschlossen entgegen.
Wenn wir die Ziele des Europäischen Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung ernst nehmen, dann brauchen wir einen radikalen Politikwechsel für mehr Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Es geht darum, gesellschaftliche Umstände zu schaffen, in denen Armut ausgeschlossen bleibt.
Um Armut nachhaltig zu bekämpfen und um ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten benötigen wir jetzt einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro und die Fortentwicklung der Sozialversicherungen zu Bürgerversicherungen, in denen das Solidarprinzip gestärkt wird und zu deren Finanzierung hohe und höchste Einkommen angemessen herangezogen werden. Wir fordern die Abschaffung von 1-Euro-Jobs sowie die Einschränkung von Leih- und Zeitarbeit. Hartz IV soll durch eine bedarfsorientierte soziale Mindestsicherung ersetzt werden, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht und sanktionsfrei ist.

Darüber hinaus brauchen die sozial benachteiligten und bedürftigen Familien allerdings auch mehr finanzielle Mittel zu ihrer freien Verfügung, denn das meiste, was man bei uns zum Leben braucht, bekommt man nur gegen Bares. So zu tun, als lägen die sozialen Defizite bloß auf dem Gebiet der Beteiligungs-, nicht aber der Verteilungsgerechtigkeit, ist verkürzt. Gesellschaftliche Teilhabe in Armut reicht nicht aus. Denn heute ist das Geld in fast allen Lebensbereichen so wichtig wie noch nie, und es ist auch so ungleich verteilt wie noch nie. Wer die Armut bekämpfen will, kommt an einer Umverteilung von Vermögen und Arbeit nicht vorbei. Ein wirksames Mittel, der wachsenden Arbeitslosigkeit entgegen zu steuern ist die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich und die Senkung des Renteneintrittalters.

Wir kommen nicht darum herum, das Tabu zu brechen: Der Staat braucht neue, wesentliche Einnahmen: Kapitalgewinne, Kapitaltransaktionen, große Vermögen und Einkommen, von denen es noch nie soviel gab wie heute, müssen höher oder überhaupt erst besteuert werden. Die schwarz-gelbe Regierungskoalition ist dazu aber offenbar, genau wie ihre Vorgänger, nicht bereit.

Deswegen fordert DIE LINKE eine stärkere Beteiligung der wirtschaftlich Leistungsfähigen an den Kosten des Gemeinwesens. Wir fordern die Anhebung des Spitzensatzes in der Einkommensteuer auf 53 Prozent, eine höhere Erbschaftssteuer und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer als Millionärssteuer.
Jahrelang wurde mit staatlicher Unterstützung von unten nach oben umverteilt. Dieser Trend muss nun umgekehrt werden!

Wir fordern die Bundesregierung auf, ein ernst gemeintes Strategiepapier gegen Armut und soziale Ausgrenzung vorzulegen, das den Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung als politische Priorität versteht.
Es müssen verbindliche Ziele zur Reduktion von Armut und sozialer Ausgrenzung mit einem konkreten Zeithorizont festgelegt werden.
Die Erreichung der jeweiligen Ziele müssen durch ein konkretes Handlungsprogramm abgesichert werden, das mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattetet wird!

Auf EU-Ebene ist das Thema Vermeidung und Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ebenfalls zu einem Schwerpunkt zu machen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass eine soziale Fortschrittsklausel in das EU - Vertragswerk aufgenommen wird. Dies bedeutet, dass soziale Grundrechte im Konfliktfall Vorrang haben müssen gegenüber der sogenannten „Niederlassungsfreiheit des Kapitals“, der „Dienstleistungsfreiheit“ und der „Freiheit des Kapitalverkehrs“ - denn es ist diese neoliberale Politik der Profitmaximierung, die uns in die wirtschaftliche Krise geführt hat.
Insbesondere fordert die Linke, die Koalitionsfreiheit, die Tarifautonomie, das Streikrecht der Gewerkschaften und das Recht der Mitgliedstaaten zum Erlass von Tariftreuegesetzen anzuerkennen und in der Praxis abzusichern.

Wir fordern zudem die Staats- und Regierungschefs der EU sowie die Europäische Kommission in Brüssel eindringlich auf, sofort Regelungen zu erlassen, mit denen alle Mitgliedstaaten wirksam gegen Lohndumping vorgehen können.


DIE LINKE will das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung gemeinsam mit Gewerkschaften, Erwerbsloseninitiativen und mit sozialen Bewegungen dazu nutzen, über gesellschaftliche Ursachen von Armut und alternative Lösungsansätze zu diskutieren. Neue Ansätze der sozialen und demokratischen Teilhabe müssen entwickelt werden. DIE LINKE ruft auf, den globalen Aktionstag gegen Armut am 17.Oktober 2010 mit den vielfältig geplanten Protesten wie den Europäischen Märschen gegen Arbeitslosigkeit und Armut und der Weltfrauenkonferenz zu verbinden.