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100%ige Erhöhung der Renten für Conterganopfer

Rede von Ilja Seifert,

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für mich selbst ist es emotional sehr bewegend, dass wir in dieser Debatte auf einem guten Weg sind, eine gemeinsame Entschließung des gesamten Parlaments zustande zu bringen. Frau Lenke, ich danke Ihnen für den Vorschlag. Ich denke, dass auch die Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition mitmachen werden. Wir werden das auf jeden Fall tun. Wenn Menschen, die seit einem halben Jahrhundert mit ihren schweren Behinderungen leben, eine Verdopplung des bestehenden Nachteilausgleichs erwarten können: Wer von uns sollte dagegen sein? Selbstverständlich ist das richtig. Wenn wir uns dazu aufraffen können, dies als einen ersten Schritt auf einem längeren Weg zu begreifen, auf dem das Prinzip des Nachteilausgleichs tatsächlich so ausgebaut wird, wie es erforderlich ist, dann sind wir auf einem guten Weg. Dann freue ich mich über die Gemeinsamkeit hier in diesem Hause, die auch von weiten Teilen der Bevölkerung getragen wird.
Dennoch erlauben Sie mir ein paar Bemerkungen, wie es weitergehen muss. So sehr ich die Kollegin Schmidt- Zadel und die Conterganstiftung schätze: Wir müssen mit den Betroffenen reden.
(Christel Humme [SPD]: Tun wir doch!)
Wir müssen die Betroffenen reden lassen. Sie haben ihre Selbsthilfeorganisation. Ich weiß auch, dass es da das eine oder andere Hickhack gibt. Wenn wir aber nicht auch einmal hier im Parlament jemanden von ihnen reden lassen - -
(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Haben wir gemacht, Herr Seifert!)
- Ich sage: von diesem Tisch aus, nicht im Ausschuss. - Das müssen wir uns einfach einmal antun. Ich finde, das wäre wichtig, damit auch wir das Signal geben, dass wir nicht über Leute reden, sondern dass wir mit ihnen reden und uns ihre Vorschläge anhören. Dann werden wir auch erfahren, welche Dinge am wichtigsten sind. Ist der Parkausweis das Wichtigste, oder sind es vielleicht andere Dinge, die wir hier auf den Weg bringen müssen und die gestaltet werden müssen? Ich erlaube mir, diesen Vorschlag einzubringen.
Wenn wir tatsächlich das, was bisher alle gesagt haben, ernst meinen, nämlich dass seinerzeit viele Seiten versagt haben, dann müssen wir im Verlauf dieser Verhandlungen auch eine deutliche Entschuldigung dafür aussprechen, dass die Politik versagt hat. Die Firma hat versagt, aber auch die Politik, die viel zu spät eingegriffen hat, hat versagt. Auch die Justiz hat versagt. Sie haben es gesagt, die Justiz hat seinerzeit alles andere als eine gute Figur gemacht. Was dann am Ende als Kompromiss herauskam, ist alles andere als befriedigend.
Wir müssen jetzt, 50 Jahre später, diesen Fehler auch eingestehen. Wir können nicht für die Justiz und für die Firma reden, aber wir können sie auffordern, Ähnliches zu tun, um auf diesem Weg den weiteren Nachteilausgleich voranzubringen, und zwar mit der klaren Ansage, dass er nicht mit anderen Leistungen verrechnet wird. Wie wäre es zum Beispiel mit einer Maßnahme, dass diejenigen, die aufgrund ihrer jetzt nicht mehr bestehenden Arbeitsfähigkeit frühzeitig in Rente gehen müssen, jetzt eine Rente in der Höhe bekommen, die der entspricht, die sie erhalten hätten, wenn sie bis zum Eintritt in das Rentenalter weitergearbeitet hätten? Warum wollen wir nicht einmal einen solchen Schritt gehen? Hier geht es um mehr als um 15 Millionen Euro, das ist mir schon bewusst. Es geht aber um Gerechtigkeit gegenüber den Menschen, die ihre Situation nicht selbst verändern können. Das ist das wirkliche System des Nachteilausgleichs. Darum muss es wirklich gehen. Es geht nicht um eine milde Gabe, die wir großzügig austeilen. Ich finde, das sind Dinge, die wir uns auf die Fahne schreiben müssen.
Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zu den Menschen, die damals in der DDR gelebt haben und die die Tabletten geschickt bekamen. Drei ehemalige DDR-Bürgerinnen und -Bürger sind als Contergan-Opfer anerkannt worden und erhalten die entsprechende Rente. Es leben auf dem Gebiet der ehemaligen DDR aber wesentlich mehr Menschen - das sieht man ihnen an -, die ebenfalls durch Contergan geschädigt sind. Ich denke, wir sollten auch sie noch einmal auffordern, erneut Anträge zu stellen, damit sie in diesen Nachteilsausgleich einbezogen werden können. Ich denke, das ist mehr als recht und billig.
Ich will Ihnen noch einmal ausdrücklich sagen: Die Linke ist sehr einverstanden damit, dass jetzt in einem ersten Schritt die Renten um 100 Prozent erhöht werden, statt um diese eher lächerlichen 5 Prozent, die zunächst vorgeschlagen worden waren. Wir wollen aber, dass dies nur als ein erster Schritt auf einer größeren Treppe von Maßnahmen begriffen wird. In Zukunft soll es auch nicht mehr passieren, dass erst von außen bei uns über ein Kunstereignis die Betroffenheit geweckt werden muss, damit wir die entsprechenden Schritte gehen. Die Betroffenen und ihre Selbsthilfeorganisationen haben uns ja immerhin seit Jahren gesagt, dass die Mittel nicht ausreichen. Eine Anfrage der Linken, die ein Jahr vor Ausstrahlung des Films gestellt wurde, hat auch nicht bewirkt, dass irgendjemand hier im Hause oder in der Regierung auf den Gedanken gekommen wäre, wir müssten etwas tun. Jetzt sind wir endlich aufgerüttelt worden. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen. Wir dürfen uns in dieser Frage nicht gegeneinander ausspielen. Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)