Zum Hauptinhalt springen

Für ein menschenwürdiges Existenz- und Teilhabeminimum!

Rede von Katja Kipping,

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Hartz-IV-Regelsatz und alle Sozialleistungen, die davon abgeleitet werden, decken nicht die Mindestbedarfe. Viele Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, leiden nicht nur an Armut, sondern auch an materieller Unterversorgung. Das äußert sich zum Beispiel wie folgt:

Die Hälfte aller Menschen, die auf Hartz IV angewiesen ist, hat Schulden, das heißt, sie haben keinerlei finanzielle Polster. Wenn also die Waschmaschine oder der Kühlschrank den Geist aufgibt, ist das für diese Familien eine mittlere Katastrophe, weil sie nicht wissen, woher sie das Geld nehmen sollen, um beispielsweise eine neue Waschmaschine anzuschaffen. Sie haben ein Problem, nämlich das Problem, dass am Ende des Geldes immer noch so viel vom Monat übrig ist.

Die Hälfte der Menschen, die auf Hartz IV angewiesen ist, hat kein Geld für medizinische Zusatzleistungen. Wir reden hier nicht über luxuriöse Sonderbehandlungen, sondern wir reden hier beispielsweise über elementare Bedarfe wie eine Brille. Wer eine Brille braucht, muss dafür zusätzlich bezahlen, und das ist für Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, ein Riesenproblem.

80 Prozent sagen, sie haben nicht einmal Geld für eine Woche Urlaub. Nun mögen einige von Ihnen sagen: Das steht halt Erwerbslosen nicht zu. - Aber rufen wir uns einmal in Erinnerung, dass davon auch Familien mit Kindern betroffen sind, und versetzen wir uns doch wenigstens eine Minute lang in die Situation von Kindern, die nach den Ferien wieder in die Schule kommen. Alle erzählen von den Urlauben, davon, wo sie waren, von ihren Ferienreisen, und sie selber können nur von dem Spielplatz vor der eigenen Haustür berichten. Das ist natürlich ein Problem.

(Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Oder von einer Klassenfahrt von Berlin nach New York!)

Sie haben bei der Berechnung des Arbeitslosengeld-II-Satzes sehr deutlich gemacht, dass für Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, ein Essen im Restaurant oder in einem Café unterwegs nicht vorgesehen ist gemäß dem Motto „Na ja, die haben ja Zeit, tagsüber selber zu Hause zu kochen“. Aber Sie haben dabei eine Sache außer Acht gelassen: Sich in einem Café auch einmal auf ein Getränk zu treffen, gehört einfach zur gesellschaftlichen Teilhabe dazu. Es ist doch nicht nur so, dass Abgeordnete sich abends zu Absprachen in einem Restaurant oder Lokal treffen. Auch Bürgerinitiativen oder ganz durchschnittliche Vereine treffen sich in Lokalen, wo ein Verzehrzwang besteht und wo am Anfang gefragt wird: Was wollen Sie bestellen? Für jemanden, der vom Hartz-IV-Regelsatz leben muss, heißt das dann: Wenn er beispielsweise an der Sitzung einer Bürgerinitiative teilnehmen will, muss er sich das Geld an anderer Stelle absparen. Das ist verdammt noch mal ein richtiges Problem. Deswegen sage ich: Der Hartz-IV-Regelsatz bzw. das Existenzminimum, so wie es hier bestimmt wird, ist auch ein Angriff auf die demokratische Teilhabe von Erwerbslosen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ganz offenkundig ist die Unterdeckung bei den Energiekosten. Die Paritätische Forschungsstelle hat errechnet, dass in den Jahren 2008 bis 2014 die Energiekosten um 37 Prozent gestiegen sind. Die Regelleistungen sind aber eben nicht entsprechend angepasst worden. „Die im Dunkeln sieht man nicht“, so heißt es bei Brecht. Für so manchen Haushalt ist das eben nicht nur ein Sprachbild, nicht nur eine Metapher, sondern bittere Realität. Es kam im Jahr 2013 immerhin in rund 350 000 Fällen zu Stromsperrungen. Menschen saßen also wirklich im Dunkeln.

Halten wir also fest: Die Hartz-IV-Regelsätze sichern nicht die Bedarfe. Wir als Linke meinen aber: Die Grundsicherung muss alle Menschen sicher vor Armut schützen, muss ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe gewährleisten. Das muss drin sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Die jetzige Art, das Existenzminimum zu berechnen, wird diesem Anspruch nicht gerecht. Es gibt theoretisch drei Methoden: den Warenkorb, bei dem man schaut: „Was braucht man im Monat zum Leben?“, die Armutsrisikogrenze, bei der alle Einkommen wie Orgelpfeifen nebeneinandergestellt werden und man 60 Prozent vom mittleren Einkommen nimmt, oder die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe.

Sie von der schwarz-roten Koalition setzen bei der Ermittlung des Regelsatzes - wie auch die Bundesregierungen davor - auf die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Um es denjenigen zu erläutern, die sich nicht jeden Tag damit beschäftigen: Die EVS basiert darauf, dass die Ausgaben von Haushalten über drei Monate hinweg festgehalten werden. Um den Regelsatz zu ermitteln, wird der Mittelwert der Ausgaben der ärmeren Haushalte genommen und davon werden - Pi mal Daumen - 30 Prozent abgezogen. Dann heißt es: Das ist, was die Menschen für ihren Lebensunterhalt brauchen.

Diese Methode hat ein grundlegendes Problem: Wenn die ärmeren Haushalte immer ärmer werden, können sie sich lebensnotwendige Dinge nicht mehr leisten. Wenn man einfach stur schaut, was diese Haushalte ausgeben, dann gibt es keinerlei Sicherheit hinsichtlich des tatsächlichen Bedarfs, da es ja keine Art Bedarfs-TÜV gibt. Dann weiß man nicht, ob das Geld überhaupt noch für ein Mindestmaß an Mobilität ausreicht, ob man sich für das Geld, das die ärmeren Leute für Fahrkarten ausgeben, überhaupt noch eine Monatsfahrkarte kaufen kann oder ob sie vielleicht sowieso schon einplanen, nicht mehr irgendwohin zu fahren, oder möglicherweise gar in die Schwarzfahrerei getrieben worden sind. Wir als Linke sagen deswegen: Die jetzige Form der Berechnung kann nicht weitergeführt werden. Es müssen hier andere Methoden eingeführt werden. Es braucht beispielsweise eine Art Bedarfs-TÜV, damit sichergestellt ist, dass Mobilität, Zugang zu Gesundheitsleistungen usw. auch wirklich garantiert sind.

In der Vergangenheit wurde das Existenzminimum am Ende immer wieder im Hinterzimmer berechnet. Es ist natürlich politisch gezielt kleingerechnet worden. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Als Sie von der SPD noch in der Opposition waren, haben Sie das auch kritisiert. Wir als Linke meinen: Damit muss Schluss sein. Sie müssen die Art und Weise, wie Sie das Existenzminimum berechnen wollen, vorher transparent machen. Wir wollen, dass eine Kommission eingesetzt wird, die sicherstellt, dass kein Mensch in Armut fällt. Wenn es um das Existenzminimum geht, braucht es mehr Transparenz und einen sicheren Schutz vor Armut.

Vielen Dank.