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Deindustrialisierung verhindern – aktive Industriepolitik für Klima und Beschäftigung

Positionspapier,

 

Positionspapier des Arbeitskreises „Haushalt, Finanzen, Infrastruktur, Umwelt und Wirtschaft“, verantwortlich: Arbeitsgruppe Wirtschaft

 

Wie reagieren auf den US-amerikanischen „Inflation Reduction Act“?

Bei allem progressiven Potential folgt Joe Bidens „Inflation Reduction Act“ (IRA) der nationalen Logik des „America First“ und zielt auf die Wiederherstellung der industriellen Dominanz der USA gegenüber China und der EU. Im Gegensatz zur Politik Donald Trumps, die auf Zollerhöhungen setzte, sieht der IRA eine direkte Förderung der Industrie durch Steuersenkungen vor. Mit Subventionen sollen die eigenen Produktionskapazitäten ausgebaut und so die USA von Importen aus dem Ausland unabhängiger werden.

Die Antwort der Europäischen Union in Form des „Green Deal Industrial Plan“ sieht zurecht Lockerungen der Beihilferegelungen vor. Dass allerdings geplant ist, den Unternehmen die in den USA in Aussicht gestellten Subventionen hier in gleicher Höhe unkonditioniert bereitzustellen (das sog. „Matching“), öffnet den Konzernen alle Möglichkeiten, die Subventionsschraube nach oben zu drehen und ist deswegen unbedingt zu verhindern.

Klar ist: Weder Verhandlungen mit den USA über ein TTIP 2.0 noch das Betteln um Ausnahmeregelungen für europäische Produkte oder eine Klage bei der WTO sind erfolgversprechende Strategien. Für uns darf eine Antwort weder Freihandel noch Standortnationalismus heißen. Es braucht eine robuste Antwort auf den US-amerikanischen „Inflation Reduction Act“ für Klima und Beschäftigung. Es braucht eine Industriepolitik für die 99 Prozent.

Die deutsche und europäische Industrie steht auch ohne den IRA vor gewaltigen Herausforderungen. Die massiven Energiepreissteigerungen, eine mögliche Gasmangellage, die Notwendigkeit Abhängigkeiten zu reduzieren und Wertschöpfungs- und Lieferketten neuzujustieren sowie zunehmende geopolitische Spannungen könnten mittel- und langfristig negative Effekte auf die Industriestruktur haben. Eine Deindustrialisierung muss verhindert werden. Unsere Vorschläge für eine robuste Antwort auf den IRA:

Sofortprogramm für Beschäftigungs- und Standorterhalt

Es braucht jetzt eine Industriepolitik für die 99 Prozent. Damit nicht blind Steuergelder an Unternehmen verschenkt werden, müssen Subventionen und Investitionshilfen für eine kohlenstofffreie Industrie an soziale Bedingungen für gute Arbeit und konkrete Beschäftigungszahlen und Standortgarantien geknüpft werden. Wer Beschäftigungsabbau betreibt, muss Fördergelder zurückzahlen. Außerdem dürfen keine Unternehmen in Steueroasen gefördert werden.

Damit ein Dividenden-Ausschüttungsverbot nicht dazu führt, dass Hilfen nicht in Anspruch genommen werden und Investitionen ausbleiben, müssen regulatorische Vorgaben zur Umrüstung gemacht und attraktive Förderprogramme aufgelegt werden. Fördern und Fordern ist hier die Devise.

Differenz- oder Klimaschutzverträge sind das Instrument der Wahl zur Förderung klimafreundlicher Technologie bei der Um- und Ausrüstung von Produktionsanlagen und können somit auch Beschäftigungsschutzverträge sein. Die Zeit drängt und technologische Weichenstellungen müssen jetzt gefällt werden.

„Grüne Leitmärkte“ können den sozial-ökologischen Umbau der energieintensiven Industrien flankieren und die nötigen Absatzmärkte beispielsweise für klimafreundlichen Stahl schaffen. Dafür müssen „Grüne Leitmärkte“ durch Ordnungsrecht und Quoten geschaffen werden, die dann die nötige Nachfrage nach diesen Produkten sicherstellen. Eine reine Ausweitung des Zertifikatehandels ist keine Lösung. Der Staat kann gleichzeitig „Ankerkunde“ sein und bei der Beschaffung besonders hohe Standards setzen. Dies kann auch einen Beitrag dazu leisten, die verheerende Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft zu reduzieren.

Steuersenkungen im selben Ausmaß wie beim IRA einzusetzen, ist der falsche Weg. Sie sollten höchstens in Form von Superabschreibungen eine Rolle spielen, die Investitionen in klimafreundlichere Maschinen und Anlagen schneller rentabel machen. Ein beträchtlicher Teil dieser steuerlichen Förderung sollte für KMUs vorbehalten werden, da so einer Marktkonzentration entgegengewirkt werden kann.

Zur Bekämpfung des Fachkräftemangels ist neben einer besseren Ausstattung und Finanzierung der Berufsschulen und überbetrieblichen Bildungsstätten für die Subventionen beziehenden Unternehmen eine vorgeschriebene Ausbildungsquote von 10-15 Prozent vorstellbar.
Akut gilt es, auch die Inflation aktiv zu bekämpfen. Forschungsergebnisse zeigen, dass es bestimmte Sektoren gibt, wie die Öl- und Gasindustrie, die Lebensmittel- und Agrarbranche sowie der Großhandel, die die Inflation insgesamt treiben. Diese Sektoren sollten mit Eingriffen in den Markt über Preis-Monitoring und -Kontrollen sowie eine wirksame Übergewinnsteuer besonders adressiert werden.
Zur Stärkung der Binnennachfrage sind neben direkten Hilfen und höheren Sozialleistungen auch höhere Tariflöhne und gewerkschaftliche Tarifbindung durchzusetzen. Damit der Kaufkraftverlust, der bei den unteren Einkommensklassen besonders spürbar ist, ausgeglichen wird, ist auch eine Erhöhung des Mindestlohnes dringend erforderlich. Die Mindestlohnkommission muss spätestens zum 1. Januar 2024, am besten jedoch schon vorher, den Kaufkraftverlust ausgleichen. Die EU-Mindestlohnrichtlinie gibt dafür einen guten Rahmen vor.

Jetzt die Weichen für die sozial-ökologische Zukunft Europas stellen

Einen Schwerpunkt legt die Europäische Union bei ihrer Antwort auf den IRA zurecht auf eine Ausweitung der IPCEIs (Important Projects of Common European Interests). Neben Halbleitern, Wasserstoff und Batterien sollten auch für Wind- und Solarkraft neue Industriekonglomerate und -Cluster aufgebaut werden. Die Forschung gerade für Sprunginnovationen in der Nano- und Klimatechnologie sollte eng mit diesen Standorten verknüpft werden. Ähnliche Projekte sind auch für ein europäisches Bahn- und Nahverkehrsnetz sowie für Produktion und Wartung der dafür notwendigen Bahnen und Busse denkbar.

Wir unterstützen und fordern schon lange eine Ausweitung und Änderung des Europäischen Beihilferechts. Vor allem die Ausnahmen müssen umfassend erweitert und die Verfahren beschleunigt werden. Der von der EU bereits verabschiedete Temporary Crisis Framework (TCF) muss ausgeweitet und verstetigt werden.

Damit sich die Divergenzen zwischen den europäischen Mitgliedstaaten nicht vergrößern, da sich nur reiche Länder die Subventionen leisten können, braucht es einen innereuropäischen Solidaritätsmechanismus, um die Industriepolitik finanzschwächerer Mitgliedsländer zu unterstützen. Das muss durch eine progressive Steuerpolitik abgesichert werden. Ein Teil der Kosten kann auch durch die Abschaffung klimaschädlicher Subventionen gedeckt werden.

Aufgrund der hohen Bedeutung des Industriesektors für Beschäftigung und Wohlstand kann es sinnvoll sein über Produktionsziele in bestimmten Branchen und den Industrieanteil an der Wertschöpfung insgesamt nachzudenken. Während der Industrieanteil in Deutschland von einer bemerkenswerten Konstanz geprägt ist, nimmt er in der Eurozone seit Jahren ab. Hier eine Trendumkehr zu erwirken, ist definitiv im europäischen Interesse. DIE LINKE schlägt vor, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge sowie bei Beschaffung und Subventionen die Kriterien Transportemissionen und CO2-Fußabdruck sowie die Ausbildungs- und lokale Beschäftigungsquote stärker zu berücksichtigen. Das wäre WTO-konform und ein wirksames Mittel gegen die Local-Content-Klauseln des Inflation Reduction Act.

Es braucht ein historisches Investitionsprogramm in Höhe von 120 Milliarden Euro jährlich für Erneuerbare Energien, den klimaneutralen Umbau der Industrie und gute Arbeit in der EU. Anstatt den fossilen Energiekonzernen den Kohleausstieg zu vergolden, sollte mit öffentlichen Mitteln auch ein öffentlicher Energiesektor entstehen. So können europaweit Millionen von Klima-Arbeitsplätzen entstehen, die Abhängigkeit von Energieimporten minimiert sowie ein klimafreundliches und resilientes Stromnetz aufgebaut werden.

Mit strategischer Staatsbeteiligung Dekarbonisierung und Industrie langfristig sichern

Weder den Erhalt ihrer Wettbewerbsfähigkeit noch die grüne Transformation können die energieintensiven Industrien aktuell allein bestreiten. Sei es beim standorterhaltenden Industriestrompreis, dem Ausbau der erneuerbaren Energien samt der benötigten (Netz)Infrastruktur oder bei der Finanzierung des Umbaus und der Dekarbonisierung von Produktionsprozessen, für all dies sind milliardenschwere Subventionen und Investitionen des Staats unabdingbar. Doch wenn die Gesellschaft einen Großteil dieser Kosten trägt, dürfen die Gewinne nicht wieder allein in private Taschen fließen. Im Gegenzug sollte sowohl die Belegschaft als auch die Gesellschaft allgemein mehr Mitbestimmung über Produktionsentscheidungen bekommen. Wir fordern daher den Aufbau einer sozial-ökologischen öffentlichen Industriestruktur. Dies könnte z.B. über die Gründung einer öffentlichen Industriestiftung gelingen, welche als Mehrheitsanteilseignerin in die energieintensiven Industriekonzerne einsteigt. Ziel ist die Förderung einer gemeinwohlorientieren, ökologischen und demokratischen Wirtschaft.

Die bevorstehende Aufgabe ist groß. Der Pfadwechsel muss von einer „missionsorientierten“ Investitions- und Industriepolitik eingeleitet werden, die das Verhältnis zwischen Gemeinwohl- und Profitorientierung neu auslotet und auch vor wirtschaftsdemokratischen Experimenten nicht Halt macht.