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Sahra Wagenknecht im Interview © APA/Georg HochmuthFoto: APA/Georg Hochmuth

»Wir wollen regieren«

Im Wortlaut von Sahra Wagenknecht, Handelsblatt,

Sahra Wagenknecht hat genug von Opposition. Im Interview spricht die Spitzenkandidatin der Linken über eine mögliche Koalition mit der SPD, Martin Schulz' spätes Bekenntnis zur sozialen Gerechtigkeit und Gerhard Schröders Äußerung über die „Familie Lafontaine“.

 

Frau Wagenknecht, steuert Deutschland auf einen Lagerwahlkampf zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Rot-Grün zu?

Für einen echten Lagerwahlkampf müsste es zunächst bei den großen Parteien zwei Lager mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung geben. Das sehe ich bisher nicht. SPD-Chef Martin Schulz redet zwar viel von sozialer Gerechtigkeit, aber er hat sein Programm in keiner Weise konkretisiert. Was will er anders machen als Frau Merkel? Ich höre immer nur, er will Bundeskanzler werden. Aber das macht ihn und seine Partei noch nicht zu einem anderen Lager.

Was erwarten Sie von ihm?

Wenn die SPD ihr Versprechen von sozialer Gerechtigkeit ernst nimmt, dann muss sie sagen, was sie beispielsweise für Steuergerechtigkeit tun will. Will sie verändern, dass große Konzerne deutlich weniger Steuern zahlen als kleine und mittlere Betriebe? Wie will sie niedrige Einkommen entlasten und das gegenfinanzieren? Oder: Stichwort Arbeitsmarkt. Wir haben immer mehr prekäre Jobs, sachgrundlose Befristungen und viele Arbeitnehmer, die unfreiwillig Teilzeit arbeiten. Das alles ist gesetzlich ermöglicht worden. Aber: Herr Schulz sagt nichts dazu, ob er diese Gesetze zurücknehmen will.

Aber für einen Politikwechsel braucht es auch Mehrheiten. Momentan sieht es nicht danach aus, dass Sie mitregieren können.

Die Frage ist eher, ob es nicht eine Mehrheit in diesem Land gibt, die sich eine Politik wünschen würde, für die der alte Anspruch Ludwig Erhards, Wohlstand für alle, wieder im Mittelpunkt steht. Die Politik der letzten 20 Jahre hat dazu geführt, dass heute etwa 40 Prozent der Bevölkerung weniger Einkommen haben als 1999. Union und SPD haben mit ihrer Politik dazu beigetragen, dass die soziale Ungleichheit immer größer geworden ist.

Stellt sich die Wohlstandsfrage aktuell überhaupt? Deutschland geht es doch wirtschaftlich sehr gut.

Wer ist Deutschland? Der deutschen Wirtschaft, zumindest den größeren Unternehmen, geht es relativ gut. Wir exportieren viel. Aber: Eine Politik, die fast die Hälfte der Bürger vom Wirtschaftswachstum abkoppelt, ist mit den Ansprüchen von Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft nicht vereinbar.

Bei einer möglichen rot-rot-grünen Regierungskoalition ist die Frage, wer Koch und Kellner ist. In der SPD gibt es Stimmen, die sagen, solange Sie den Ton angeben, wird es ein solches Bündnis nicht geben.

Die SPD sucht offenbar schon wieder Ausreden, weshalb sie nach der Wahl ihre Wahlversprechen wieder nicht einlösen wird. Das haben wir ja schon oft erlebt. Im Wahlkampf gibt es wohlklingende soziale Versprechen, dann suchen sich die Sozialdemokraten Koalitionspartner, bei denen sie genau wissen, dass sie ihre Versprechen nicht umsetzen können. Ich halte das für keine seriöse Politik.

Altkanzler Schröder sagt, es liege alles an der "Familie Lafontaine". Mit den Vernünftigen in der Linkspartei könne man ja koalieren.

Also ich denke, psychologisch muss man Schröder da verstehen. Dass Oskar Lafontaine 2005 im Bundestagswahlkampf mit der Linken angetreten ist, hat Schröder letztlich die Kanzlerschaft gekostet. Offensichtlich verbittert ihn das bis heute. Und richtig ist natürlich auch: Für eine Fortsetzung des Schröder-Kurses in der SPD steht die Linke tatsächlich nicht als Koalitionspartner zur Verfügung.

Aber andere Sozialdemokraten sehen es wie Altkanzler Schröder und sagen, mit einem Realpolitiker wie dem thüringischen Linken-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow wäre es einfacher, ein Linksbündnis zu schmieden.

Es ist nicht unsere Aufgabe, der SPD das Leben einfacher zu machen. Unsere Aufgabe ist es, uns für eine sozialere Politik einzusetzen. Es ist in Koalitionen übrigens nicht üblich, dass sich der eine Koalitionspartner das Personal des anderen aussucht. Entweder will die SPD tatsächlich eine sozial gerechtere Politik, dann kommt sie an uns als Partner nicht vorbei, oder sie will einfach nur die Kanzlerschaft und politisch ein "Weiter so". Eine Fortsetzung von Merkels Politik unter einem Kanzler Schulz ist mit Unterstützung der Linken nicht zu machen.

Ist es wirklich nur eine psychologische Sache des Altkanzlers, dass er seine politische Vergangenheit abarbeitet, oder ist es nicht einfach auch Realpolitik?

Gerhard Schröder steht mit seiner Politik dafür, dass die SPD ihr sozialdemokratisches Programm aufgegeben hat. Mit der Agenda 2010 wurden die Wunschlisten der Arbeitgeberverbände abgearbeitet. Das zeigen auch die Folgen: Die Gewinne der Unternehmen sind deutlich angestiegen, Dax-Konzerne schütten Rekorddividenden aus. Schröder hat eine Wende eingeleitet, die dazu geführt hat, dass sich die SPD nicht mehr nennenswert von der Union unterscheidet. Wer das fortführen will, der muss gegen eine Koalition mit der Linken sein.

Jetzt ist da aber Martin Schulz, der Tag und Nacht über soziale Gerechtigkeit spricht. Da müssen doch auch Sie sagen: "Einen Besseren von der SPD bekommen wir nicht mehr."

Wenn Schulz seine Ankündigungen ernst nimmt, stimmt das. Allerdings ist schon auffällig, dass Schulz’ Wandlung zum Anhänger sozialer Gerechtigkeit an dem Tag stattgefunden hat, an dem Sigmar Gabriel ihn zum Kanzlerkandidaten gemacht hat. Ich kenne Martin Schulz aus dem Europäischen Parlament. Dort hat er die Agenda 2010, den Sozialabbau und den Niedriglohnsektor immer verteidigt. Ich will ihm trotzdem gern abnehmen, dass er es jetzt ehrlich meint. Nur dann können seine bevorzugten Koalitionspartner unmöglich die CDU/CSU oder die FDP sein.

Wo wären Sie zu Kompromissen bereit?

Die Richtung ist entscheidend. Also: Wenn es eine Politik geben wird, bei der sich der Normalverdiener, kleine Selbstständige und Mittelständler gut vertreten fühlen und die Ungleichheit verringert wird, dann sind wir auch zu Kompromissen im Detail bereit. Es muss schon ein klarer Politikwechsel erkennbar sein.

Wenn Sie aber weiter in der Opposition bleiben, werden im schlimmsten Fall nur Pressemitteilungen für den Papierkorb produziert.

Unser angestrebtes Modell ist ja nicht die Opposition. Wir wollen regieren. Ich habe lange genug Oppositionspolitik gemacht, ich würde schon lieber Gesetze beschließen, statt sie nur zu kritisieren.

Frau Wagenknecht, vielen Dank für das Interview.

 
Interview: Thomas Sigmund und Dietmar Neuerer

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